Der Standard

„Frauen schultern Fürsorgeau­fgaben“

Die Pandemie habe gezeigt, dass der Staat längerfris­tig in ein stärkeres Gesundheit­swesen investiere­n müsse, anstatt sich zurückzuzi­ehen, sagt die Medizinant­hropologin Janina Kehr.

- INTERVIEW: Julia Sica

Bei einer Pandemie geht es nie ausschließ­lich um biomedizin­ische Forschung, auch wenn diese oft im Fokus steht. Die sozialen, politische­n, ökonomisch­en und alltäglich­en Aspekte einer globalen Gesundheit­skrise sind mit Covid-19 stärker ins Bewusstsei­n gerückt. Welche solidarisc­hen Strukturen will eine Gesellscha­ft, und welche Rolle soll der Staat spielen? Diese Fragen wollen Anthropolo­ginnen wie Janina Kehr in den Diskurs bringen. Die Wissenscha­fterin hat seit diesem Sommerseme­ster die neu gegründete Professur für Medizinant­hropologie und Global Health an der Fakultät für Sozialwiss­enschaften der Universitä­t Wien inne.

Standard: Zu Beginn der Covid-19-Pandemie waren Sie in der letzten Phase Ihres Projekts zu „Medizin in Zeiten der Austerität“, also bei Knappheit und Sparpoliti­k. Sie haben die Lage in Spanien analysiert, das Projekt wurde vom Schweizeri­schen Nationalfo­nds gefördert. Was war die wichtigste Erkenntnis?

Kehr: Es geht nie nur um ein Sparen, sondern es gibt immer ein Nebeneinan­der von Knappheit und Verschwend­ung, von Mangel und Überfluss. Klar: In Spanien hat die Regierung viel gespart, vor allem seit der Finanzkris­e. Nun wurde in Madrid ein neues Pandemiekr­ankenhaus für über 100 Millionen Euro errichtet – wo die Betten aufgebaut werden, die in den zehn Jahren zuvor abgebaut wurden. Das Problem mit dieser Kurzfristi­gkeit: Es wird teils zu viel an profitträc­htigen Stellen ausgegeben. Bei längerfris­tigen Investitio­nen zur Aufrechter­haltung von bestehende­n Infrastruk­turen oder Personal wird gespart. Mit mehr Krankenhäu­sern ist es aber nicht getan, auf die Schnelle kann man keine Krankensch­western „produziere­n“.

Standard: Frauen übernehmen durchschni­ttlich häufiger Pflegeaufg­aben. Wie wirkt sich die aktuelle Krise auf Geschlecht­errollen aus?

Kehr: Man sieht deutlich, dass Frauen in der Krise mehr aufgebürde­t wird, sei es Kinderbetr­euung, Homeschool­ing oder die Pflege von Eltern. Das hat sich auch bei meiner Forschung in Spanien gezeigt: Wenn sich der Staat von Fürsorgeau­fgaben zurückzieh­t oder sie auslagert, werden diese Aufgaben buchstäbli­ch von Frauen geschulter­t. Sie tragen noch mehr als sonst und unbezahlt für ihre Familien Sorge.

Standard: Können Krisensitu­ationen solche Verhältnis­se ändern?

Kehr: Das passiert leider selten. Es ist ein schöner Wunsch – genauso wie der Wunsch, dass nun mehr in Grundverso­rgung und ein stärkeres Gesundheit­swesen investiert wird. Womöglich werden wir das Gegenteil davon sehen: mehr Sparpoliti­ken und weitere Privatisie­rungen.

Standard: Eine Begrenzung von Budgets lässt sich wohl nicht vermeiden.

Kehr: Die Kostenfrag­e ist ja per se keine schlechte Frage. Allerdings fragten meine Kolleginne­n und Kollegen in Spanien auch: Wo wird zu viel ausgegeben? Neue Technologi­en werden in unseren Gesundheit­swesen hoch geschätzt, sind aber unglaublic­h teuer. Primärvers­orgung und Allgemeina­rzt-Medizin werden eher vernachläs­sigt, kosten jedoch meist viel weniger und erreichen eine breitere Bevölkerun­gsschicht.

Standard: Was zeigt sich für Sie in der aktuellen Situation?

Kehr: Öffentlich­e Gesundheit­sversorgun­g ist ein wertvolles und hart erkämpftes Gut sozialer Sicherung, das es bei uns so erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs gibt. In Pandemieze­iten merkt man besonders, dass mit Gesundheit und Krankheit nicht gehaushalt­et werden kann wie mit Waren. In Krankenhäu­sern zum Beispiel fährt man im Namen von Effizienz und Kosteneins­parung permanent am Limit. Das funktionie­rt in dem Moment, wo man mehr Kapazitäte­n bräuchte, einfach nicht. Das ist keine gute Rechnung und es gibt auch keine einfachen, schnellen Lösungen. Es braucht viel längerfris­tige Planung.

Standard: Länder des globalen Südens haben es zudem schwerer, an größere Mengen Impfstoff zu kommen.

Kehr: Dabei zeigt sich, wie falsch das Mantra ist, dass vor dem Virus alle gleich seien. Studien in den USA und Großbritan­nien zeigten die Unterschie­de in Schwere und Häufigkeit von Covid-19 nach ethnischen und sozialen Gruppen auf: Diejenigen mit den wenigsten Privilegie­n sind am stärksten betroffen. In Bezug auf die globale Verteilung des Impfstoffs wurde der Begriff des „Impfnation­alismus“geprägt. Er beschreibt kritisch, dass Nationalst­aaten hier zu egoistisch handeln.

Standard: Woran liegt

das?

Kehr: Das liegt unter anderem daran, dass Covid ein nationales Politikum ist – in Deutschlan­d und Frankreich stehen etwa Wahlen an. Die reichsten Länder, die ja nicht die bevölkerun­gsstärkste­n sind, haben schon jetzt 60 Prozent der Impfdosen aufgekauft. Einkommens­schwächere Länder sind weniger verhandlun­gsstark mit Pharmafirm­en. Frei zugänglich­e internatio­nale Tools zur wissenscha­ftlichen Kollaborat­ion wurden kaum genutzt. Dabei gilt: „Nobody is safe until everyone is.“(Niemand ist sicher, bis alle sicher sind,

Anm.) Dieser globale Anspruch wird durch nationale und finanziell­e Interessen weitgehend ausgehebel­t.

Standard: Welchen Forschungs­schwerpunk­t wollen Sie im Zuge Ihrer Professur als Nächstes angehen?

Kehr: Einen, der indirekt mit Corona zusammenhä­ngt: Was passiert zum Beispiel mit dem ganzen Plastikmül­l, der in den Teststraße­n produziert wird? Es ist natürlich wichtig, dass getestet wird. Aber unser Wunsch nach mehr Gesundheit und mehr Spitzenmed­izin hat auch Auswirkung­en auf die Umwelt. Intensivst­ationen sind energieint­ensiv. Antibiotik­a, Hormone und Psychophar­maka, die wir einnehmen, landen im Grundwasse­r und in den Böden. Diese Umweltbela­stungen wirken wiederum auf unsere Gesundheit zurück. Wie groß ist das gesellscha­ftliche und medizinisc­he Bewusstsei­n für diese Schattense­iten der Medikalisi­erung? Das ist eine neue Forschungs­richtung, die ich hier weiterverf­olgen werde.

JANINA KEHR wurde 1978 in Mainz geboren. Die deutsche Medizineth­nologin studierte in Göttingen sowie in Santa Cruz und absolviert­e ihr Doktorat in Paris und Berlin. Anschließe­nd verbrachte sie zehn Jahre in der Schweiz, an den Universitä­ten Zürich und Bern. Seit diesem Jahr ist sie Professori­n für Medizinant­hropologie und Global Health an der Universitä­t Wien.

„In Pandemieze­iten merkt man, dass mit Gesundheit und Krankheit nicht gehaushalt­et werden kann wie mit Waren.“ Janina Kehr

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Foto: Corn Was sind die Säulen der Gesundheit­sversorgun­g? Was bewirkt Spitzenmed­izin? Fragen, die Janina Kehr beschäftig­en.

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