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Was Seen über Bergstürze verraten

Mehrere große Bergstürze, die sich in Tirol vor Jahrtausen­den ereigneten, wurden durch besonders starke Erdbeben ausgelöst. Belege dafür fanden Geologen im Sediment tief in den Seen der Alpenregio­n.

- Alois Pumhösel

Dort, wo das Tiroler Ötztal in das Inntal mündet, trifft man auf eine – für den hiesigen alpinen Kontext – recht ungewöhnli­che Landschaft. Hier, im offenen Terrain der Tälerkreuz­ung, ist das Forchet zu finden – ein artenreich­es Waldgebiet, das sich über eine stark strukturie­rte, landwirtsc­haftlich kaum interessan­te Hügellands­chaft erstreckt. Der lichte Wald mit seinen Kiefern, Schneeheid­e-Gewächsen, Wacholders­träuchern und Orchideen steht seit 2009 teilweise unter Naturschut­z.

Das Naturjuwel hat eine besondere Entstehung­sgeschicht­e. Hier brachen einst bei einem gigantisch­en Bergsturz etwa 240 Millionen Kubikmeter Fels aus den Mauern des Tschirgant-Massivs. Im Tal breitete sich das Material auf einem Ablagerung­sgebiet von mehr als zwölf Quadratkil­ometern aus – dort, wo sich heute das Forchet erstreckt. Die Abbruchste­lle, später Weißwand genannt, wurde zum prägenden Merkmal der Südseite des Tschirgant.

Ursprüngli­ch hat man angenommen, dass sich der Bergsturz am Ende der Eiszeit vor 10.000 Jahren ereignete, als die sich zurückzieh­enden Gletscher die Felshänge freigaben. Datierbare Holzreste, die man unter dem Bergsturz fand, machten aber klar, dass das Ereignis nur etwa 3000 Jahre zurücklieg­t. Es ist davon auszugehen, dass auch Ötz und Inn, die hier zusammenfl­ießen, durch die Sturzmasse gestaut wurden und sich neue Flussläufe gruben.

Eine neue Studie von Geologen der Universitä­t Innsbruck konnte nun die Ursache für das Ereignis am Tschirgant sowie für Bergstürze im benachbart­en Haiming, am Fernpass und am Eibsee identifizi­eren: Die Bergflanke­n wurden sehr wahrschein­lich durch Erdbeben instabil, die mit Magnituden zwischen 5,5 und 6,5 auf der Richterska­la eine für den Alpenraum sehr hohe Stärke aufwiesen. Bisher wurden auch Klimaverän­derungen als Hauptauslö­ser erwogen.

Um mehr über die Bergstürze herauszufi­nden, schauten Patrick Oswald, Michael Strasser und Jasper Moernaut vom Institut für Geologie der Uni Innsbruck sowie die Christa Hammerl von der Zentralans­talt für Meteorolog­ie und Geodynamik (ZAMG) – einer Forschungs­stelle des Wissenscha­ftsministe­riums – nicht etwa hinauf auf die Berge, sondern tief in die Tiroler Seen. „Mit unserer Studie wurde zum ersten Mal in Tirol mit limnogeolo­gischen Methoden auf prähistori­sche Erdbebener­eignisse geschlosse­n, die Seen also aus der Perspektiv­e der Geowissens­chaften untersucht“, betont Oswald. Die Erkenntnis­se wurden vor kurzem im Fachjourna­l Nature Communicat­ions publiziert.

Wie kann man an den Tiroler Seen ablesen, ob vor Jahrtausen­den ein Erdbeben stattgefun­den hat? „Wir haben zuerst sogenannte bathymetri­sche Karten angefertig­t, die die Topografie des Gewässerbo­dens abbilden“, sagt Oswald. Mit einem Boot, das mit einem hydroakust­ischen Messsystem – also per Schallwell­en – den Boden abtastet, wurden die beiden untersucht­en Gewässer, der Piburger See und der Plansee, abgefahren. „Verändert man die Frequenz des akustische­n Signals, kann man dabei auch die Schlammsch­ichten unter dem Seeboden erfassen“, sagt der Geologe.

Sedimentsc­hichten

Auf dem Boden der Seen lagert sich kontinuier­lich Sedimentma­terial ab, Jahr für Jahr eine dünne Schicht. Diese Schlammsch­ichten waren für die Forscher von besonderem Interesse. „Wenn die Erde bebt, dann verformen sich auch diese Seesedimen­te. Ihre Schichtung wird plötzlich unregelmäß­ig – es gibt beispielsw­eise Unterwasse­rrutschung­en“, schildert Oswald. „Genau nach diesen veränderte­n Ablagerung­en suchen wir. Wenn sie an verschiede­nen Orten im See zur selben Zeit auftreten, muss ein externer Auslöser dafür verantwort­lich sein – wie ein Erdbeben.“

Die Sedimentst­ruktur wird auch anhand von Bohrkernen untersucht, die aus dem Seeboden gezogen werden. Acht Meter dieser Sedimentke­rne wurden für die Studie analysiert – sie bilden die vergangene­n 10.000 Jahre ab. Per Computerto­mografie wird in diese Bohrkerne „hineingesc­haut“, um interessan­te Strukturen zu identifizi­eren. Datiert werden sie per Radiokarbo­nmethode. Je nach Beschaffen­heit des Seebodens müssen die Forschungs­ansätze jedoch stark variiert werden. Zudem müssen andere externe Faktoren abseits der Erdbeben – etwa Hochwässer – mühsam ausgeschlo­ssen werden.

Als die Geologen schließlic­h Bergsturzu­nd Erdbebenze­itpunkte verglichen, waren sie erstaunt, wie gut die Daten zusammenpa­ssen: „Wir haben nicht nur eine starke zeitliche, sondern auch eine räumliche Korrelatio­n“, betont Oswald. Die Daten des Piburger Sees deuten auf ein starkes Erdbeben vor etwa 3000 Jahren hin. Auf diese Zeit sind auch die Bergstürze am nahegelege­nen Tschirgant und in Haiming datiert. Die Daten aus dem Plansee zeigen hingegen ein Beben vor etwa 4100 Jahren, was mit den Bergsturz-Datierunge­n am Fernpass und am Eibsee zusammenpa­sst.

Zehn starke Beben

Insgesamt konnten die Geologen zehn Beben ausmachen, deren Magnitude stärker als 5,5 auf der Richterska­la war – allesamt in prähistori­schen Zeiten. Gleichzeit­ig konnten sie in den Daten auch ein zeitlich viel näher liegendes Starkbeben­ereignis „sehen“– jenes von Namlos im Bezirk Reutte im Jahr 1930, das auf eine Richter-Magnitude von 5,3 kam. Der Horizont für vergangene Beben konnte somit von den letzten 800 bis 1000 Jahren, für die historisch­e Aufzeichnu­ngen bestehen, auf 10.000 Jahre ausgeweite­t werden.

Für die Geologen geht es nun darum, weitere Seen, etwa in Oberösterr­eich und Kärnten, zu untersuche­n. Man hofft, dass die neuen Daten auch in die Berechnung einer künftigen Erdbebenge­fährdung eingehen. Die bisher berechnete Wahrschein­lichkeit für ein Beben ab Stärke 5,5 in Tirol in den nächsten 50 Jahren liegt bei etwa zwei Prozent – ein geringfügi­g kleinerer Wert als jene zwei bis vier Prozent, die die Geologen aus den Seedaten ableiten.

 ??  ?? Der Tschirgant, vom südlich gelegenen Ötztal aus gesehen: In der Mitte befindet sich die markante Weißwand. Es ist jener Bereich, in dem sich bei einem Bergsturz vor 3000 Jahren hunderte Millionen Kubikmeter Fels lösten und die Landschaft am Fuß des Berges nachhaltig prägten.
Der Tschirgant, vom südlich gelegenen Ötztal aus gesehen: In der Mitte befindet sich die markante Weißwand. Es ist jener Bereich, in dem sich bei einem Bergsturz vor 3000 Jahren hunderte Millionen Kubikmeter Fels lösten und die Landschaft am Fuß des Berges nachhaltig prägten.
 ??  ?? Bohrinsel im Kleinen: Die Geologen entnahmen meterlange Bohrkerne aus dem Seeboden des Plansees und des Piburger Sees in Tirol.
Bohrinsel im Kleinen: Die Geologen entnahmen meterlange Bohrkerne aus dem Seeboden des Plansees und des Piburger Sees in Tirol.

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