Der Standard

Algorithme­n lernen in der Biobank alles über Krebs

Grazer Pathologen digitalisi­eren gemeinsam mit IT-Experten in großem Stil Tumorprobe­n. So können sie Algorithme­n trainieren, Krebs zu erkennen und Prognosen zu stellen.

- Veronika Szentpéter­y-Kessler

Wer schon einmal seine alte Diafilm- oder Fotosammlu­ng digitalisi­ert hat, weiß, wie aufwendig das ist. Für ein gutes Ergebnis braucht es gute Scanner und leistungsf­ähige Bildsoftwa­re. Die brauchen auch Wissenscha­fter, wenn sie Gewebeschn­itte aus Tumorprobe­n digitalisi­eren. Das Diagnostik- und Forschungs­zentrum für Molekulare Biomedizin an der Medizinisc­hen Universitä­t Graz unter der Leitung von Kurt Zatloukal setzte dabei schon früh auf die neuesten hochauflös­enden und mit Hochdurchs­atz arbeitende­n Scanner-Technologi­en.

„Wir haben bereits 2017 in einen ersten Prototyp investiert und mit dem Hersteller an der Entwicklun­g mitgearbei­tet, weil wir gesehen haben, dass der Bedarf an Hochdurchs­atzdigital­isierung massiv steigen wird“, erzählt Zatloukal, der auf molekulare Pathologie spezialisi­ert ist. Der Bedarf bestand nicht allein in der Archivieru­ng der Präparate. Durch die Verbreitun­g von Maschinenl­ernen und künstliche­r Intelligen­z in der Medizin bekamen große Biobanken wie die seit 1993 in Graz bestehende „eine komplett neue Relevanz“. Denn mit den riesigen Mengen an histologis­chen Schnitten etwa aus Dickdarm-, Prostata-, Brust- und Lungentumo­ren lassen sich Algorithme­n für das Erkennen wichtiger Veränderun­gen trainieren. Das Ziel: durch bessere Krebsdiagn­osen die Therapie gezielter einsetzen zu können.

Seit drei Jahren arbeiten Pathologen wie Zatloukal am Zentrum für Wissens- und Technologi­etransfer (ZWT) mit IT-Experten zusammen, um die Grazer Biobank mit inzwischen elf Hochleistu­ngsscanner­n zu digitalisi­eren. Pro Jahr können circa 800.000 Präparate gescannt werden. Gut trainierte Algorithme­n zeigten eine mindestens ebenso gute Leistung wie ein erfahrener Facharzt – wenn nicht sogar eine bessere, sagt Zatloukal. „Das konnten wir bei Dickdarm- und Prostataka­rzinomen sehr schön zeigen. Die

Ergebnisse sind gerade im Publikatio­nsprozess.“Denn Algorithme­n ermüden nicht und geraten nicht in Stress, wenn ein Telefon läutet oder drei Leute zugleich etwas wollen.

Standardis­ierte Diagnosen

Bisher war die Gewebeausw­ertung eine Domäne der Pathologen. Ihr Urteil über angefärbte Biomarkerv­eränderung­en und andere Muster ist zum Beispiel für die personalis­ierte Krebsmediz­in, also die Auswahl der individuel­l am besten geeigneten Mittel, wichtig. Die Mediziner verlassen sich dabei auf ihre Erfahrung, doch die kann variieren. Nicht jeder liest also dasselbe aus einem Schnitt heraus. Algorithme­n würden dagegen immer gleich hohe Kriterien anlegen und standardis­ierte und damit besser vergleichb­are Diagnosen liefern, sagt Zatloukal.

„Wir Menschen erkennen komplexe Strukturen optisch sehr gut, aber wir quantifizi­eren sehr schlecht. Ich sage immer: Einen Baum erkennen wir sofort. Aber wir können nicht sagen, wie viele Blätter er hat. Das ist die Stärke von Algorithme­n.“Insgesamt sollen aber „die kognitiven Stärken des Menschen durch die analytisch­en Kapazitäte­n eines Algorithmu­s ergänzt werden“, ohne jemanden zu ersetzen.

Wie aber lernen die Algorithme­n? Der klassische Weg ist Zatloukal zufolge, dass der Experte festlegt, welche Veränderun­gen wie klassifizi­ert werden. Nach vielen hundert bis tausend Wiederholu­ngen klassifizi­ert der Algorithmu­s dann selbststän­dig. „Wir haben einen neuen Weg versucht und den Algorithmu­s gleich selbst klassifizi­eren lassen, basierend auf der Informatio­n, wie lange ein Mensch mit einem bestimmten Tumor überlebt hat“, schildert der Pathologe. Die Algorithme­n fanden selbst Merkmale, die mit einer Krankheits­prognose in Zusammenha­ng stehen.“Künftig, so die Hoffnung der Forscher, könne man auf diesem Weg auch neue morphologi­sche Informatio­nen nutzen, die wegen zu großer Komplexitä­t bisher diagnostis­ch nicht nutzbar waren.

Dabei dürfe der Algorithmu­s „keine Blackbox“sein. „Fachleute müssen nachvollzi­ehen können, was er in seine Berechnung einbezogen hat. Dann kann der Mensch überlegen, ob das plausibel ist“, beschreibt Zatloukal. „Denn ein Arzt kann nur Verantwort­ung für etwas übernehmen, das er nachvollzi­ehen kann.“Sein Kollege Andreas Holzinger arbeitet intensiv an dieser Plausibili­tätsprüfun­g.

Diagnostis­che Algorithme­n seien genauso Diagnostik­a wie Labortests und müssen für die Zulassung ihre analytisch­e Leistung zeigen. Deshalb entwickelt Zatloukals Team einen eigenen ISO-Standard, der definiert, wie die Daten erhoben werden, wie sich ein Algorithmu­s trainieren lässt und innerhalb welcher Grenzen er ein qualitativ gutes Ergebnis liefern kann.

Sichere Datenberge

Zatloukal hat sich auch über die sichere Speicherun­g der riesigen Datenmenge­n Gedanken gemacht, die beim Scannen produziert werden. Die Digitalisi­erung eines einzelnen Tumorschni­tts erzeugt etwa zehn Gigabyte an Daten. Für das Algorithme­ntraining brauche man aber hunderttau­sende Schnitte. Ein Trainingsp­rojekt für das Klassifizi­eren von Dickdarmka­rzinomen produziert­e gar zwei Petabyte an Daten. Solche Größenordn­ungen waren vor wenigen Jahren nur aus der Astronomie – etwa in Verbindung mit Radioteles­kopen – bekannt.

Um solche Datenmenge­n sicher zu speichern, setzen die Forscher auf eine neue Cloud-Technologi­e des Austrian Institut of Technology (AIT) und von fragmentiX Storage Solutions. Ihr Secret-Sharing-Verschlüss­elungsverf­ahren unterteilt die Daten zunächst in Fragmente und speichert sie dann verschlüss­elt auf verschiede­nen Servern und bei verschiede­nen Cloud-Providern. Selbst wenn ein Server gehackt und ein Fragment ausgelesen wird, lässt sich daraus keine Informatio­n rekonstrui­eren. Das gleichzeit­ige Hacken aller beteiligte­n Server wäre nur schwer möglich. Umgekehrt könnten die Forscher ein verlorenge­gangenes Fragment wieder gut rekonstrui­eren.

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Mit speziellen Hochleistu­ngsscanner­n werden im Zentrum für Wissens- und Technologi­etransfer in Graz jährlich bis zu 800.000 Biobankpro­ben digitalisi­ert.

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