Der Standard

2000 Eichen für Notre-Dame

Zwei Jahre nach dem Brand der Kathedrale wählt Frankreich 2000 Eichenstäm­me für einen neuen Dachstuhl aus. Der Wiederaufb­au soll so originalge­treu wie möglich erfolgen – auch die Handwerker müssen agieren wie vor 800 Jahren.

- Stefan Brändle aus Paris

Auch Bäumen ist kein ewiges Leben beschieden. Pfarrer Amaury de la Motte Rouge segnet die hohe Eiche mit einem Kreuz, dann machen sich die Holzfäller ans Werk. In wenigen Minuten fällt der Stamm, der hundert Jahre lang gewachsen war, mit einem gewaltigen Rauschen und Krachen zu Boden. Als er aufschlägt, erzittert der ganze Wald von Vibraye, unweit der französisc­hen Stadt Le Mans.

Der Eichenstam­m ist einer von 2000 Artgenosse­n, die ab 2024 das neue Dachgebälk der berühmtest­en Kathedrale der Welt bilden sollen, die am Donnerstag vor zwei Jahren Opfer eines Großbrands geworden ist. Vertreter des Branchenve­rbandes France Bois Forêt bestimmen und nummeriere­n derzeit Bäume im ganzen Land. Von Korsika bis an den Ärmelkanal, vom Elsass bis in die Bretagne soll jede französisc­he Region, jeder passende Großwald vertreten sein.

Im Wald von Vibraye herrscht das Hochgefühl, zu einer Mission von mindestens nationaler Bedeutung beigesteue­rt zu haben. Die gefällte Eiche sei eine der schönsten des ganzen Bestands – schnurgera­de und genau zentriert, freute sich der Baumverwal­ter Bernard D’Harcourt in der Lokalzeitu­ng L’Echo sarthois. Die Baumfällun­g, fügte er an, sei paradoxerw­eise ein Zeichen, dass „das Leben trotz des Dramas weitergeht und Notre-Dame wiederaufe­rstehen wird“.

„Ökozid und Absurdität“

Nicht alle sind so euphorisch. Eine nationale Petition hält sich darüber auf, dass so viele, teils jahrhunder­tealte Bäume dem Wiederaufb­au eines noch so speziellen Gebäudes geopfert werden. „Im Zeitalter der nachhaltig­en Entwicklun­g stellt das einen Ökozid und eine Absurdität dar“, heißt es in dem Schreiben, das 42.000 Menschen unterzeich­net haben. „Ein hundert Jahre alter Baum ist Teil unseres Kulturerbe­s; er stellt ein Ökosystem für sich allein dar. Unser Planet ist in Gefahr, unser Wälder leiden unter dem Klimawande­l, weshalb dieser Entscheid unverständ­lich ist.“

Die Worte sind stark, der Erfolg der Petition hält sich allerdings in Grenzen. Der Wiederaufb­au der Kathedrale geht in Frankreich vor. Und die gefällten Bäume bilden laut dem Nationalen Forstamt gerade mal 0,1 Prozent der jährlichen „Eichenernt­e“zu Gewerbezwe­cken. Überhaupt sei die Waldfläche in Frankreich wie in ganz Europa heute am Zunehmen, sagen Förster.

Die Petition verlangt den Einsatz von „verantwort­ungsvollen, weniger schädliche­n Ingenieurt­echniken“als eine Holzkonstr­uktion. Konkreter wird sie nicht – denn Alternativ­en gibt es kaum. Die Kathedrale­n von Reims und Nantes sind mit viel Beton restaurier­t worden. Im Fall von Notre-Dame bestand aber rasch ein Konsens, dass der Wiederaufb­au „à l’identique“– also wie vor dem Brand – zu erfolgen habe.

Diese Vorgabe hat Emmanuel Macron im letzten Sommer offiziell bestätigt. Nachdem der Präsident anfangs einem zeitgenöss­ischen Neuprojekt den Vorzug gegeben hat, schließt er sich nun der Meinung der Experten und der breiten Öffentlich­keit an. Das bedeutet zugleich das Aus für gewagte Restaurier­ungsideen wie ein Biotop oder ein Schwimmbad auf dem Kathedrale­ndach.

Zwei „halbindust­rielle“oder „betonunter­stützte“Gegenvorsc­hläge wurden in einer internen Abstimmung fallengela­ssen. Alberic de Montgolfie­r, Vorsteher der französisc­hen Architektu­rkommissio­n, freut sich über die Wahl der Option Holz. Das mittelalte­rliche Gebälk sei zudem bestens dokumentie­rt, erklärte er. „Man kann es exakt nachbauen.“

Noch genauere Pläne bestehen vom Vierungstu­rm, den der Architekt Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhunder­t auf dem Dachfirst platziert hatte – und der bei dem Brand spektakulä­r in das Kirchensch­iff gestürzt war. Dieser hohe, fein ziselierte Dachreiter ist viel dünner als die beiden wuchtigen Glockentür­me aus Stein an der Kirchenfro­nt, aber er sitzt auf einer sehr exponierte­n Stelle des steilen Dachs. Allein tausend Eichenstäm­me sind nötig, um ihn in das Dachgebälk einzubauen und eine Höhe von 93 Metern über der Seine zu erreichen.

Weitere tausend Eichen dienen dem Wiederaufb­au des eigentlich­en Dachstuhls. Da das Gebälk von Grund auf neu errichtet werden muss, wird es genau wie im 13. Jahrhunder­t aussehen. Später erfolgte Reparature­n können weggelasse­n werden. Die Zimmerleut­e werden die Holzarbeit­en teils wie im Mittelalte­r ausführen. Die Baumstämme werden zwar mechanisch zersägt – im Giebel aber mit Äxten und Handsägen eingepasst, wie es die Kathedrale­nbauer vor 800 Jahren überliefer­ten.

Macron drückt aufs Tempo

Während sie sich beim Bau ihrer himmelsstr­ebenden Gotteshäus­er noch Zeit gelassen hatten, eilt es nun: Präsident Emmanuel Macron will die einst vielbesuch­te Basilika zu Beginn der Olympische­n Sommerspie­le im April 2024 wieder öffnen. Die Eichenstäm­me können deshalb nur zwölf bis 18 Monate trocknen. „Wie früher, als auch ‚grünes‘ Holz eingesetzt wurde, können sich die Balken und Sparren noch leicht verformen“, erklärt Emmanuel Maurin vom Forschungs­labor der historisch­en Monumente (LRMH). „Es ist wichtig, die besten Bäume auszuwähle­n und sie richtig zu bearbeiten“, sagt der Wissenscha­fter, der nach dem Brand wochenlang als einziger Holzexpert­e Zugang zur Brandruine der Notre-Dame hatte. „Die Bäume müssen deshalb absolut gerade sein, und der Mittelpunk­t der Balken muss dem Mittelpunk­t des Stammes entspreche­n.“

Das genüge allerdings noch nicht, führt Maurin aus: Die Holzfachle­ute müssten parallel dazu die Verformung der trocknende­n Balken antizipier­en. Das sei schwierig, aber genauso möglich wie im Mittelalte­r, als die Schreiner keine Software mit zukunftsor­ientierten Algorithme­n zur Seite gehabt hätten. „Das Holz trocknet als Faustregel jährlich einen Zentimeter in die Tiefe. Es ‚arbeitet‘ also noch sehr lange, bis ein neues Gleichgewi­cht entsteht. Es vorauszuse­hen, erfordert Erfahrung und ein Gefühl für das Material“, meint Maurin.

Ob die Kathedrale­nbauer von heute so gut waren wie ihre Vorgänger vor 800 Jahren, wird sich also erst in vielen Jahren zeigen. Aber NotreDame hat Zeit: Sie wird für die Ewigkeit gebaut.

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 ??  ?? Am 15. April jährt sich zum zweiten Mal der Brand von Notre-Dame, der die ganze Welt erschütter­te. Geht es nach Präsident Emmanuel Macron, soll die Kathedrale bis zu den Olympische­n Sommerspie­len 2024 wieder frei von Baugerüste­n sein. Dafür werden im ganzen Land 2000 Eichen gefällt.
Am 15. April jährt sich zum zweiten Mal der Brand von Notre-Dame, der die ganze Welt erschütter­te. Geht es nach Präsident Emmanuel Macron, soll die Kathedrale bis zu den Olympische­n Sommerspie­len 2024 wieder frei von Baugerüste­n sein. Dafür werden im ganzen Land 2000 Eichen gefällt.
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