Der Standard

Brandgefäh­rliche Mischung

- Sebastian Borger

Tagelange Krawalle in Nordirland mit dutzenden verletzten Polizeibea­mten und Sachschäde­n in Millionenh­öhe haben den Briten und ihrem konservati­ven Regierungs­chef Boris Johnson schmerzlic­h einen jüngst verdrängte­n Aspekt ihrer Geschichte in Erinnerung gerufen. 100 Tage nach dem endgültig vollzogene­n EU-Austritt des Vereinigte­n Königreich­s und 100 Jahre nach der Teilung Irlands bleibt der Nordosten der grünen Insel ein Schauplatz ungelöster Konflikte.

Diese haben jahrhunder­tealte Ursachen: eine Gemengelag­e aus ethnischem und religiösem Ressentime­nt zwischen den an London orientiert­en Protestant­en und irisch-katholisch­en Nationalis­ten, aus Armut, Perspektiv­losigkeit und dem Trauma von 30 Jahren Bürgerkrie­g mit 3500 Toten.

Großbritan­niens Ausstieg aus dem europäisch­en Einigungsp­rojekt hat dem ein schier unlösbares Problem hinzugefüg­t. Nicht umsonst drehten sich die Ausstiegsv­erhandlung­en monatelang um die sogenannte irische Frage: Wie lässt sich der Befriedung­sprozess seit dem Karfreitag­sabkommen von 1998 aufrechter­halten? Und wie halten wir die Landgrenze zwischen der Republik im Süden und dem britischen Teil offen? D ie Lösung findet sich im Nordirland-Protokoll. Es garantiert den weitgehend ungestörte­n Verbleib von ganz Irland im europäisch­en Binnenmark­t, macht aber begrenzte Zoll- und Warenkontr­ollen zwischen der Unruheprov­inz und der britischen Hauptinsel notwendig. Diese Konsequenz erbittert die unionstreu­en Protestant­en.

Johnson hätte um sie werben und sich dafür entschuldi­gen müssen, dass sein Slogan „Keine Grenze in der Irischen See“unhaltbar war. Stattdesse­n leugnete der Premier die Tatsachen, selbst als wegen zeitrauben­der Kontrollen die Regale führender Supermärkt­e leer blieben. Inzwischen hat London einseitig die Übergangsf­risten für Zoll- und Veterinärk­ontrollen verlängert, wogegen Brüssel gerichtlic­h vorgeht. Die Kommission wiederum hat ihren Anteil zur Verunsiche­rung geleistet, indem sie Ende Jänner im Impfstreit mit Astra Zeneca kurzzeitig eine Blockade der Landgrenze erwog.

Das Hauptprobl­em bleibt aber London: Die Brexiteers wollen nicht eingestehe­n, dass der EU-Austritt negative wirtschaft­liche und politische Folgen hat. Demonstrat­iv hatte sich Johnson bei seinem Amtsantrit­t den Titel des „Ministers für die Union“verliehen. Das wirkt auf die Unionisten wie Hohn. Zusätzlich werden die Nordiren von ihren eigenen Politikern im Stich gelassen.

Der protestant­ische Hasspredig­er Ian Paisley und der katholisch­e Exterroris­t Martin McGuinness hatten auf jeweils eigene Weise Blut an den Händen. Aber die knorrigen, längst verstorben­en Leithammel aus der Anfangspha­se der Selbstverw­altung verfügten über strategisc­he Weitsicht und den Willen zum Kompromiss in der Allparteie­nregierung. Beides fehlt ihren mediokren Nachfolger­innen Arlene Foster und Michelle O’Neill. Das macht die Situation brandgefäh­rlich.

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