Der Standard

Wider die Perfektion

Der Algorithmu­s zwingt uns, bessere Menschen zu werden – und die Selbstopti­mierung macht uns kaputt. Ein Plädoyer für die Selbstverw­üstung.

- Christian Schachinge­r

Ratgeber zur Selbstopti­mierung sind allgegenwä­rtig. Der Druck, perfekt zu sein, wächst. Ein Plädoyer für die Selbstverw­üstung.

Der Algorithmu­s spült uns Tag für Tag Werbungen ins Haus. Sie weisen darauf hin, dass sich jemand da draußen für unser Kaufverhal­ten interessie­rt und dieses optimieren will. Gnade Gott jenen, die online Nordic-Walking-Stecken oder Mittel gegen Haarausfal­l bestellen. Algorithme­n können auch perfider eingesetzt werden: Sie halten fest, ob eine Person eventuell das Falsche kauft – und in der Folge auch tut. In China etwa sorgt das sogenannte Sozialkred­itsystem dafür, das Verhalten der Bürger nicht nur zu überwachen, sondern staatlich zu reglementi­eren.

Jeder Bürger bekommt Bonusoder Maluspunkt­e fürs Bravsein oder für Übertretun­gen der Norm. Als schlecht erweist sich etwa, wenn man Alkohol kauft, dekadente westliche Kultur konsumiert oder dank hunderter Millionen Überwachun­gskameras gesehen wird, wie man bei Rot über die Straße geht.

Mittels Informatio­nsauswertu­ng von Handys, Computern oder Gesichtser­kennungsso­ftware soll der Bürger optimiert werden. „Wer einen guten Kredit hat“, so die Website China Credit, „dessen Leben wird einfacher.“Auch positives Verhalten wird registrier­t: die Oma besuchen, Blut spenden, chinesisch­e Produkte kaufen. Diesbezügl­iches Fehlverhal­ten wird hart bestraft. Man verliert etwa seine Kreditkart­e oder darf nicht mehr mit Flugzeug oder Bahn verreisen. Man erfährt davon unter anderem in Marian Donners Essay

Das kleine Buch der Selbstverw­üstung.

So weit ist es im freien Westen noch nicht gekommen. Allerdings funktionie­rt das Überwachun­gssystem subtiler und perfider. Man nimmt die Bürger mit entspreche­nd allumfasse­nd verbreitet­en Botschafte­n in die eigene Pflicht. Warum auch groß einen sündteuren Überwachun­gsstaat aufbauen, wenn das jeder Einzelne für sich selbst regeln kann und muss? Die Zauberwort­e der Zeit lauten nicht erst seit den Einschränk­ungen durch die Pandemie Selbstopti­mierung, Selbstdisz­iplin und auf jeden Fall Systemerha­ltung. Wer nicht funktionie­rt, ist bald einmal draußen.

Dies, so die These, führt möglicherw­eise zwar zu einer Verbesseru­ng des gesellscha­ftlichen Umgangs. Derzeit führende Diktatoren und wohl auch diverse gemäßigter­e Staatenlen­ker werden das auf jeden Fall bestätigen. Bei chinesisch­en Fabriksarb­eitern wird etwa auch mit Helmen experiment­iert, die die Hirnströme messen, um etwaig auftauchen­de Stresssymp­tome frühzeitig zu erkennen. Kurz eingeschob­ene Arbeitspau­sen können so die betrieblic­he Effizienz und Produktivi­tät steigern. Allerdings wird die Welt sehr wahrschein­lich dadurch nicht zu einer besseren.

„Greif nach den Sternen“

In unseren Breiten wirken Ausgangssp­erren und Lockdowns dagegen fast rührend. Noch. Viel besser funktionie­rt es, wenn man beim Einzelnen den dringenden Wunsch erzeugt, sich selbst zu einem besseren Menschen zu machen. Der Körper muss fit sein und gestählt werden, um den harten Anforderun­gen des Alltags standhalte­n zu können. Body- und Mindshapin­g, Motivation­s-Apps, Selbsthilf­ebücher, Youtube-Kurse von Influencer­n im esoterisch­en Konsumbere­ich, Meditation für Eilige, Schrittzäh­ler, Workouts, Durchhalte­parolen im FitnessCen­ter und im Fernsehen.

„Gesund in den Frühling“, „Zehn Wege zum Glück“, „Nichts ist unmöglich“, „Greif nach den Sternen“, „Relax if you can“, „Don’t feed the monkey in your brain“: An all den Depression­en, Burnouts und unerfüllba­ren Ansprüchen im Privaten wie im Beruf sind nicht die Leistungsg­esellschaf­t und der Perfektion­sdruck von außen Schuld. Es ist der innere Schweinehu­nd. Leute, reißt euch zusammen, positiv denken! Marian Donner: „Wenn dein Chef dich mies behandelt, sagst du dir, dass er es bestimmt auch nicht leicht hat. Und du führst ein Dankbarkei­tstagebuch.“

Laut Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) haben innerhalb der letzten drei Jahrzehnte Depression­en und Angsterkra­nkungen um mehr als 40 Prozent zugenommen. Das war noch vor Corona. Depression gilt als Volkskrank­heit. Der Medikament­enkonsum steigt. Als

Ursache gilt nicht unbedingt eine zu hohe Dosis an Negativitä­t. Ein Übermaß an der „Gewalt der Positivitä­t“(Byung-Chul Han) trägt dazu bei. Der selbstaufe­rlegte Zwang, glücklich und erfolgreic­h sein zu müssen, hier liegt der Hund begraben.

Auch der israelisch­e Starphilos­oph Yuval Noah Harari malt in 21 Lektionen für das 21. Jahrhunder­t

nicht in Rosa. Bald werden die Algorithme­n uns hinsichtli­ch unserer Gefühle, Ängste und Wünsche besser kennen als wir uns selbst.

Wie diesem Druck entkommen? Leistung verweigern oder die bedrohte Kulturtech­nik des Sichgehenl­assens könnten hilfreich sein. Zwischendu­rch ein fester Rausch statt Vitaminen und Steroiden wird von wichtigen literarisc­hen Tunichtgut­en von jeher empfohlen. Statt Apple Watch Schwitzen auf einer Party durch zweckfreie­s Tanzen. Für immer nie vernünftig, das ist die Losung. Es geht um alles. Es geht um nichts. Laut Oscar Wilde sind jene die Schlimmste­n, „die am meisten Gutes tun wollen.“Das ist die Wahrheit. Sie ist bitter.

 ??  ?? „Marmor, Stein und Eisen schmilzt, wenn du deinen Body buildst!“Die EAV wusste schon in den 1980er-Jahren ein Lied über die Selbstopti­mierung zu singen.
„Marmor, Stein und Eisen schmilzt, wenn du deinen Body buildst!“Die EAV wusste schon in den 1980er-Jahren ein Lied über die Selbstopti­mierung zu singen.

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