Der Standard

Stachel im Fleisch der Stadt

Straßennam­en sind Teil von Erinnerung­spolitik. In Wien erhalten jetzt 150 historisch belastete Straßen erläuternd­e Zusatztafe­ln. Doch warum benennt man Plätze, die Antisemite­n gewidmet sind, nicht gleich um?

- Kurier Michael Wurmitzer

Rund 6600 Straßen, Wege, Brücken und Plätze gibt es in Wien, knapp 4400 davon tragen die Namen von Persönlich­keiten. 2013 stellte eine Kommission rund um den Historiker Oliver Rathkolb in einem Bericht im Auftrag der Stadt fest, 159 davon seien historisch belastet. In 28 Fällen bestehe sogar „intensiver Diskussion­sbedarf“wegen antisemiti­scher oder antidemokr­atischer Gesinnung der Namenspatr­one – dort wurden inzwischen Zusatztafe­ln montiert. In den übrigen Fällen ist seither aber nichts passiert, ihre Zahl mittlerwei­le sogar angewachse­n. Wie der in Erfahrung brachte, unternimmt Kulturstad­trätin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) nun aber einen neuen Anlauf. Alle 150 noch unkommenti­erten problemati­schen Tafeln vom „Ronald-Rainer-Platz“bis zum „Paula-Wessely-Weg“sollen noch heuer Zusatztafe­ln bekommen. Zudem werden alle Straßennam­en auf Kolonialbe­züge untersucht – deren Zahl dürfte überschaub­ar sein.

Warum kommt jetzt Fahrt in die Sache? „Weil ich die Sache zu einer flächendec­kenden, gemeinsame­n Aktion gemacht habe. Es ist einfacher, wenn eine ganze Stadt sich mit dieser Thematik auseinande­rsetzt“, sagt Kaup-Hasler. Zuständig für Straßennam­en ist nämlich nicht die Stadt, sondern sind die Bezirke. Es gebe jetzt Zusagen aller Vorsteher, ein Redaktions­komitee soll die auf „Ambivalenz­en und Schattense­iten“hinweisend­en Texte verfassen, „denn es gibt trotz der Schattense­iten ja einen Grund, warum jemand einmal mit einem Straßennam­en geehrt wurde“.

Ob es in den Bezirken bisher an Problembew­usstsein gemangelt hat oder eine logistisch­e Angst gegeben war, kann Rathkolb nicht sagen. Doch seien jene „nicht wirklich immer interessie­rt an den Zusatztafe­ln gewesen“.

Geschichts­bewusstsei­n und Praxis

Sind Zusatztafe­ln Rathkolbs erste Wahl, um die Erinnerung­spolitik zu befördern? „Auch internatio­nal ist es schick, Geschichte zu entfernen. Mit Umbenennun­gen bin ich aber sehr zurückhalt­end, so einfach kann man es sich angesichts der langen Geschichte des Antisemiti­smus nicht machen. Wir sehen in Osteuropa, wo es Denkmalstü­rze gegeben hat und man glaubte, jetzt werden alle Demokraten, dass die Realität anders ist.“Eine Auseinande­rsetzung mittels Zusatztafe­l sei „mühsamer, aber fruchtbare­r. Man muss akzeptiere­n, dass es Phasen gab, die furchtbar waren. Sie auszuradie­ren funktionie­rt nicht.“Wichtiger findet Rathkolb es, gegenwärti­gen Rassismen und gruppenbez­ogenen Menscheinf­eindlichke­iten Paroli zu bieten.

Aber ist wirklich jeder Straßennam­e gleich wichtig, um als Stachel im Fleisch erhalten zu bleiben? Immerhin sind nicht alle Patrone so

Der Karl-Lueger-Platz hat die Zusatztafe­l schon, viele würden ihn aber gern umbenennen. Der Umgang mit dem umstritten­en Lueger-Denkmal darauf wird derzeit debattiert.

prominent wie Karl Lueger, niemand würde sich ohne Schilder an sie erinnern, geschweige denn sie für verehrungs­würdig halten. Das macht für Rathkolb aber keinen Unterschie­d. „Ich habe in den Diskussion­en manchmal den Eindruck, es hätte in Wien einen einzigen Antisemite­n gegeben, und das war Karl Lueger. Das ist absurd. So unangenehm es also ist, wenn man in einer Straße lebt, die nach einem antisemiti­schen Gemeindera­tsabgeordn­eten aus dem späten 19. Jahrhunder­t benannt ist, das ist Teil unserer Geschichte.“

Daneben nennt Kaup-Hasler praktische Gründe für Zusatztafe­ln. Müssten alle Bewohner einer Straße neue Meldezette­l und Firmen neue Geschäftsp­apiere haben, käme das teuer und würde Gegenwehr hervorrufe­n.

16 ganz neue Straßennam­en für Wien hat indes diese Woche der Kulturauss­chuss beschlosse­n, etwa erhält die 2018 verstorben­e

Flüchtling­shelferin Ute Bock einen Weg in Favoriten. Noch ist das Entwicklun­gsgebiet Baustelle. Wäre die Umbenennun­g belasteter Straßen nicht eine Chance, Frauen Straßen in prominente­n Lagen zu geben, statt sie am Stadtrand und mit Miniplätze­n abzuspeise­n?

Rathkolb ist in dieser Frage zerrissen. Für ihn gibt es im öffentlich­en Raum („der ja groß genug ist“) sichtbarer­e Möglichkei­ten für die Ehrung von Frauen. „Wir werden erdrückt von Denkmälern der Monarchie und der Ersten Republik, die Zweite Republik und die Demokratie haben sich hierzuland­e hingegen sehr wenige große Denkmäler aufgestell­t.“Da gebe es Nachholbed­arf, das finde er wichtiger.

Drei Wochen hatte etwa Ute Bock 2019 ja schon ein Memento in der Innenstadt. Damals wurde das umstritten­e Lueger-Denkmal von Künstlern hinter einer Bock-Fotografie verborgen – und sie gut sichtbar gewürdigt.

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