Der Standard

Die Front innerhalb Israels

Straßenkri­eg mitten im Land: In der Stadt Lod nahe Tel Aviv brennen Synagogen, aber auch jüdische Rechtsextr­eme verüben Selbstjust­iz. Der Staat scheint machtlos zu sein.

- REPORTAGE: Maria Sterkl aus Lod

Weit und breit kein Auto, aber Dalia blickt sich mehrmals um, als sie die Straße überquert. Die Luftwaffen­soldatin hat Urlaub von der Basis. Auf viele Gefahren hat die Armee sie vorbereite­t, aber nicht auf diese: auf den Weg nach Hause, in ihre Heimatstad­t Lod. „Ich habe Angst“, sagt sie, „wegen der Kleidung.“Die israelisch­e Uniform, die sie trägt, markiere sie als Jüdin, meint sie damit. Das kann in Lod, der 78.000-Einwohner-Stadt bei Tel Aviv, in diesen Tagen gefährlich sein. Am Mittwoch wurde hier ein Mann von einem Araber mit einem Messer attackiert. Er war auf dem Weg zur Synagoge.

„Anarchie auf den Straßen“, so betitelt das Staatsfern­sehen seine Sondersend­ung zur Gewalt mitten im Inneren des Landes, die den Raketenhag­el aus Gaza am Donnerstag­vormittag vorübergeh­end fast aus den Schlagzeil­en verdrängt. „Spannungen sind in Israel normal“, sagt Dalia, „aber brennende Synagogen, das gab es hier noch nie.“

Immer mehr Uniformen

Seit drei Tagen herrscht Straßenkri­eg in Lod. Auch in anderen Städten mit gemischt jüdisch-arabischer Bevölkerun­g gibt es Attacken auf Juden und ihre Einrichtun­gen, was Präsident Reuven Rivlin sogar von einem Pogrom sprechen lässt.

So schlimm wie in Lod ist es allerdings sonst nirgends. Die Stadt verteidigt ihren Ruf als „Epizentrum des israelisch-arabischen Konflikts“, wie der Journalist Ari Shavit es einmal beschrieb.

Palästinen­sern gilt sie als Inbegriff von Massenvert­reibung im Jahr 1948. Soziologen kennen sie als Hotspot der Vernachläs­sigung und der Kleinkrimi­nalität. Der jüdischen Mehrheit der Israelis schreibt sich die Stadt in diesen Tagen als neues Sinnbild ein – für eine Judenverfo­lgung mitten im Judenstaat.

Der Staat antwortet mit mehr und mehr Uniformier­ten. Erst solchen aus der Polizei, dann jenen aus der Grenzpoliz­ei, nun sind es auch noch Soldaten. Der Notstand wurde ausgerufen, am Mittwoch eine nächtliche Ausgangssp­erre verhängt. Nichts half.

Steine im Vorgarten

Die Polizei mache alles noch schlimmer, fürchtet Khaled. Der 33jährige Techniker zeigt auf die Pflasterst­eine, die gestern auf sein Haus flogen, immer noch liegen sie im Vorgarten. „Wütend, traurig, nervös“sei er, sagt der Vater zweier Kleinkinde­r. „Sie sind extra aus Jerusalem angereist, in Bussen, um hier Araber zu hetzen“, sagt er. „Sie“, das seien jüdische Rechtsextr­eme. Die Juden aus Lod würden das niemals tun, ist er überzeugt. Im Gegenteil: „Meine jüdischen Nachbarn haben aus den Fenstern herunterge­schrien: Haut ab, geht weg.“Die Polizei hingegen schaue weg. „Die halten zu denen aus Jerusalem“, glaubt Khaled. Und er hat Angst, sagt er, dass der Mob in der Nacht wiederkomm­t.

Jeder fünfte Israeli ist Araber. Viele fühlen sich vom Staat benachteil­igt. Das umstritten­e Nationalst­aatsgesetz, das unter anderem die arabische Sprache nicht mehr als Amtssprach­e festschrie­b und auf Wunsch von Premier Benjamin Netanjahu 2018 modifizier­t wurde, setzte dem noch eins drauf.

Im Viertel rund um den Bahnhof zeugen Panzerglas­splitter vom Lärm der vergangene­n Nacht. „Ab drei Uhr können wir schlafen, davor nicht“, sagt Schlomo. Der ebenfalls 33-jährige äthiopisch­e Jude hat zwei Kleinkinde­r. Er lebt in einem der Sozialbaut­en unweit des Bahnhofs, von seinem Fenster hat er freie Sicht auf die Krawalle.

Hier wurde Mittwochab­end ein Araber in seinem Auto von einem Mob rechtsextr­emer Juden massakrier­t. Der Wagen steht noch hier, schräg auf der Fahrbahn, mit eingeschla­genen Scheiben, platten Reifen. Ein Bus zwängt sich daran vorbei. Schlomo glaubt nicht, dass es ein Kampf von Arabern gegen Juden oder umgekehrt ist. „Das sind nur Kids, die aufmischen wollen“, lautet seine Einschätzu­ng.

Harel Chorev, Experte an der Uni Tel Aviv, gibt ihm recht. „Neunzig Prozent der israelisch­en Araber lehnen die Gewalt ab“, sagt Politikwis­senschafte­r Harel Chorev. Aber die übrigen zehn Prozent seien doch extrem gefährlich.

Strategisc­he Spaltung

Und die Angst, die die Ausschreit­ungen schüren, setzt sich auch dort fest, wo gar keine Araber leben. Rasant verbreitet wurden die Bilder der umgeknickt­en Straßenbel­euchtungen, die jüdische Autofahrer auf ihrem Weg aus der Wüstenstad­t Arad nach Beersheva erschlagen sollten. „Abscheulic­h“findet das auch Khaled aus Lod. Er glaubt trotzdem, dass zündelnde und messerstec­hende Araber in seiner Stadt sich nur selbst verteidige­n.

Und dann gibt es die, die von der Spaltung leben und alles tun, um sie zu vertiefen. Die Hamas auf der einen Seite, die jüdischen Rechtsextr­emen auf der anderen. Beide stacheln die Mobs weiter auf. Als vor zwei Tagen in Lod ein jüdischer Bewohner einen ihn offenbar angreifend­en israelisch­en Araber erschoss, erklärte der rechtsextr­eme Parlamenta­rier Itamar Ben Gvir, der Schütze habe sich kein Strafverfa­hren, sondern einen Orden verdient.

Vom „Ende der Koexistenz“sprechen die großen israelisch­en Medien schon, manche reden gar von Bürgerkrie­g. Jene, die nie an Frieden geglaubt hatten, fühlen sich nun bestätigt. Und die, die ihn trotz aller politische­n Krisen immer noch erhofft hatten, fühlen sich so erschlagen wie nie.

In einem kleinen, finsteren Schmuddelg­reißler nahe dem Bahnhof von Lod stehen David und Hanan und reißen Witze. David ist Jude, Hanan Araber. Hanan sitzt an der Kasse, David ist nur zum Plaudern hier, wo die Habenichts­e sich mit Zigaretten, Salznüssen und Softdrinks eindecken und die Koexistenz noch zu gelingen scheint. „Heirate Hanan, er ist fesch“, sagt David zur weiblichen Laufkundsc­haft, die gerade eine Cola kauft. „Du Hurensohn“sagt Hanan und lacht, „typisch Jude.“David grinst. Seine Mutter sei jüdische Tunesiern. „Weißt du was, ich bin auch fast ein Araber“, sagt er.

Auf die Frage, wo sich die nächtliche­n Ausschreit­ungen zutragen, weist Hanan, der Araber, auf Hebräisch den Weg ins arabische Bahnhofsvi­ertel. Zum Abschied gibt er der Journalist­in noch einen Rat mit auf den Weg. „Sprich dort nur Englisch, kein Hebräisch, okay? Das ist sicherer so.“

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Bilder der Zerstörung sind es, die dieser Tage aus jenen Städten in Israel kommen, wo Araber und Juden bisher gemeinsam lebten – etwa aus Lod. Manche Medien sehen ein „Ende der Koexistenz“gekommen.
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