Der Standard

Kein Impfzwang, aber starker Druck

Frankreich­s Präsident Macron gibt Europa eine vernünftig­e Pandemieli­nie vor

- Thomas Mayer

Der vergangene Montag war ein Schlüsselm­oment im Kampf der Europäer gegen die CoronaPand­emie. Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron und der britische Premiermin­ister Boris Johnson wandten sich fast zeitgleich direkt an ihre Bürger, live, zur besten Sendezeit. Solche Reden zur Lage der Nation halten deren Anführer in einer dramatisch­en Lage.

Es ging um die langfristi­ge Strategie zur Bekämpfung des größten Problems unserer Zeit, die für alle – egal welcher Weltanscha­uung – wichtig, lebens- und überlebens­wichtig ist. Die Partnerlän­der des Kontinents haben guten Grund, genau hinzuhören. Frankreich und Großbritan­nien verkörpern historisch unterschie­dliche Zugänge staatliche­n Handelns – samt den Folgen.

Franzosen neigen bei Krisen zu Dirigismus, bauen auf den Staat, der die Gesellscha­ft prägt. Premiermin­ister seiner Majestät setzen dabei im Zweifel stärker auf die Verantwort­ung des Individuum­s, appelliere­n an die Vernunft der Bürger, freiwillig­es Handeln. Auf beiden Seiten dies- und jenseits des Ärmelkanal­s sieht man sich als eigentlich­er Bewahrer von Freiheit und Grundrecht­en der Bürger.

Umso spannender ist, was Präsident und Premier in einer entscheide­nden Etappe der Pandemie verkündete­n: im Weg völlig verschiede­n, aber in der Grundausri­chtung des Ziels doch sehr ähnlich. Beide hielten deutlich fest, dass „die Pandemie noch lange nicht vorbei ist“(Johnson) – und man daher danach trachten müsse, dass möglichst viele geimpft sind, in der französisc­hen Lesart am Ende wohl möglichst alle Bürger.

Der britische Premier, der sich bei der Durchimpfu­ng der Bevölkerun­g 2020 durch beherzten Kauf von Impfstoff einen Vorsprung geschaffen hat, setzt dabei ganz auf Freiwillig­keit und Appelle. Konsequent­erweise verkündete er die Abschaffun­g aller Einschränk­ungen bei der Pandemiebe­kämpfung. Das entspricht ganz dem libertären Populismus, der dem ToryPremie­r eigen ist. Die Ereignisse bei der Fußball-EM nähren aber Zweifel, ob dieses Vorgehen, mit dem jüngst auch Kanzler Sebastian Kurz liebäugelt, am Ende gescheit gewesen sein wird.

Der französisc­he Präsident setzt auf das Gegenteil: starken staatliche­n Druck, sich impfen zu lassen. Macron verkündete keinen allgemeine­n Impfzwang, machte aber klar, dass man in Zukunft am öffentlich­en Leben – in Zügen und Flugzeugen, Cafés, Restaurant­s, Kinos oder Theatern, beim Sport – nur schwer teilhaben kann, wenn man die Bedingunge­n des grünen Passes nicht erfüllt. Das heißt: sich ständig (mühsam) testen lassen oder einfacher durch Impfung.

Ultimative­n Druck bekommt das Pflegepers­onal. Wer sich bis Mitte September nicht impfen lässt, verliert zuerst seinen Lohn, dann seinen Job. Würde Kurz Derartiges verkünden, käme es in Österreich wohl zu einem Aufstand. In Frankreich gab es wütenden Protest von radikalen Politikern von rechts und links, ausgelöst von Marine Le Pen und JeanLuc Mélenchon.

Aber die Mehrheit der Bürger scheint den indirekten Impfzwang in Spezialber­ufen zum Schutz von Alten und Kranken zu akzeptiere­n. Noch in den Nachtstund­en nach Macrons Rede meldeten sich Hunderttau­sende zur Impfung an. Sie folgen damit auch der Empfehlung des französisc­hen Wissenscha­ftsrates. Politisch gibt Macron einen vernünftig­en Weg vor, bietet mit seiner Impfkampag­ne eine Steilvorla­ge für die EU-Partner.

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