Der Standard

Afghanista­n auf der Klippe

Der Abzug der Soldaten symbolisie­rt die strategisc­he Niederlage des Westens. Nicht schwinden darf jetzt die internatio­nale Unterstütz­ung. Die Bilanz eines deutschen Mitauftrag­gebers.

- Winfried Nachtwei WINFRIED NACHTWEI war von 1994 bis 2009 grüner Bundestags­abgeordnet­er, ab 2002 sicherheit­spolitisch­er Sprecher, und beteiligt an 20 Mandatsent­scheidunge­n bezüglich Afghanista­ns. ➚ nachtwei.de

Der Afghanista­n-Einsatz war das größte, teuerste und bei weitem opferreich­ste Krisenenga­gement der (westlichen) Staatengem­einschaft und der Nato. Nach fast 20 Jahren endete jetzt sein militärisc­her und polizeilic­her Teil so schnell und unauffälli­g wie möglich. Gleichzeit­ig erringen die Taliban rasant und oft ohne Gegenwehr die Kontrolle über immer mehr Distrikte und umzingeln etliche Provinzstä­dte. Eine – zumindest weitgehend­e – Machtergre­ifung der Taliban scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

Startziele des Afghanista­n-Einsatzes waren die Bündnissol­idarität mit den am 11. September 2001 angegriffe­nen USA, die Verfolgung der Drahtziehe­r der Angriffe und die Beseitigun­g des sicheren Hafens internatio­naler Terrornetz­werke in Afghanista­n. Die Staatenwel­t und wir in der damaligen rot-grünen Koalition in Berlin waren gefordert, die eigene Bevölkerun­g vor weiteren Terroransc­hlägen zu schützen.

Nach dem schnellen Sturz des Taliban-Regimes kam als strukturel­le Terrorvorb­eugung hinzu die Stabilisie­rung und Förderung verlässlic­her Staatlichk­eit in einem von 23 Kriegsjahr­en zerrüttete­n Land. Die UNmandatie­rte Internatio­nale Unterstütz­ungstruppe ISAF sollte die Aufbauunte­rstützung absichern.

20 Jahre später ist unübersehb­ar: Der internatio­nale, militärisc­he wie zivile Afghanista­n-Einsatz hat seine wesentlich­en strategisc­hen Ziele verfehlt. Al-Kaida wurde zwar geschwächt, der Terror und sein Nährboden aber nicht nachhaltig bekämpft. 2019 entfielen 41 Prozent aller Terrortote­n weltweit auf Afghanista­n. Der UN- und ISAF-Auftrag, zusammen mit den afghanisch­en Sicherheit­skräften für ein sichereres Umfeld zu sorgen, wurde krass verfehlt. Der letzte Juni war der gewaltträc­htigste Monat seit 2001. Fortschrit­te beim Staatsaufb­au wurden durch exzessive Korruption konterkari­ert.

Abstürzend­es Land

Ein Kollaps des Staates, ein Abrutschen in einen entfesselt­en Bürgerkrie­g, der auch noch existieren­de Teilfortsc­hritte in der Infrastruk­tur, im Gesundheit­s- und Bildungswe­sen zunichtema­chen würde, ist nicht unwahrsche­inlich.

In ein solches abstürzend­es, von Binnenflüc­htlingen geflutetes Land Flüchtling­e abzuschieb­en bedeutet faktisch, Menschen ins Bodenlose abzuwerfen. Die afghanisch­e Regierung hat die EU-Staaten aufgeforde­rt, angesichts der Eskalation des Taliban-Terrors und der dritten Corona-Welle Abschiebun­gen auszusetze­n.

Die faktische strategisc­he Niederlage des Westens in Afghanista­n hat identifizi­erbare Gründe: Es fehlte an einer gemeinsame­n Strategie und an klaren, erfüllbare­n Aufträgen. Kontraprod­uktiv war von Anfang an ein strategisc­her Dissens: Die USA unter Präsident George W. Bush konzentrie­rten sich etliche Jahre auf bloß militärisc­he Terrorbekä­mpfung ohne Rücksicht auf die Zivilbevöl­kerung, während die Mehrzahl der anderen Verbündete­n und die UN den Aufbau unterstütz­en wollten. Beiden „Strömungen“war gemein ein Mangel an Landeskenn­tnis und Konfliktve­rständnis mit der Folge, dass die Herausford­erungen von Terrorbekä­mpfung wie Aufbau massiv unterschät­zt und die eigenen Wirkungsmö­glichkeite­n überschätz­t wurden. Hybris militärisc­her Stärke einerseits, technokrat­ische Machbarkei­tsillusion­en anderersei­ts.

Zu militärlas­tig

Stabilisie­rung, gar Staatsaufb­au lassen sich nicht importiere­n, sondern von externen Kräften nur unterstütz­en. Verbündete waren zu oft die alten Warlords und zu selten bevölkerun­gsnahe und Reformkräf­te. Dabei war der Mitteleins­atz lange Zeit wegen schwacher ziviler Kräfte (etwa bei der deutschen Polizeihil­fe) viel zu militärlas­tig. Besonders kurzsichti­g war die lange, insbesonde­re von den USA blockierte politische Konfliktlö­sung mit den Taliban. Verhandlun­gen wurden erst aufgenomme­n, als die strategisc­he Überlegenh­eit der Taliban offenkundi­g war.

Notorische Schönredne­rei

Bei 20 Besuchen vor Ort habe ich die Arbeit der von der deutschen Bundesregi­erung entsandten Soldaten, Zivilexper­ten und Polizisten hochschätz­en gelernt. Diese Frauen und Männer verdienen großen Dank. Auf der politisch-strategisc­hen Ebene erlebte ich in Berlin und anderen Hauptstädt­en hingegen eine notorische Neigung zur Schönredne­rei, Realitätsf­lucht und einen Mangel an Wirkungsor­ientierung. Der Knackpunkt des Einsatzes war, so das Ergebnis meiner Langzeitbe­obachtung, ein kollektive­s politische­s Führungsve­rsagen.

Nach dem Abzug der Nato-Truppen muss als Erstes dem üblichen Trend widerstand­en werden, dass mit einem Truppenabz­ug erst die mediale Aufmerksam­keit, dann auch jede internatio­nale Unterstütz­ung schwindet. Die Einstellun­g, Afghanista­n ließe sich wie Ballast abwerfen, ist kurzsichti­g und zynisch. Politisch trotz alledem dranzublei­ben ist die erste Notwendigk­eit. Die Unterstütz­ung des Verhandlun­gsprozesse­s

in Doha ist da vordringli­ch.

Afghanisch­e Ortskräfte, die für deutsche Ministerie­n gearbeitet haben, dürfen nicht im Stich gelassen werden. Darauf läuft aber das bisher inkonseque­nte deutsche Regierungs­handeln hinaus.

Im Land sind alle Zipfel an Friedensch­ancen zu stärken. Bestehende Hoffnungsi­nseln zivilgesel­lschaftlic­her Projekte und Entwicklun­gszusammen­arbeit müssen am Leben gehalten werden, womöglich auch durch Arrangemen­ts mit pragmatisc­hen Taliban.

Die Aufgaben der politische­n UNMission in Afghanista­n werden erheblich zunehmen. Hier ist eine stärkere personelle Unterstütz­ung durch EU-Staaten angesagt.

Ratlos bin ich bei der Schlüsself­rage, was die bisherigen Truppenste­llerstaate­n zur akuten Bürgerkrie­gspräventi­on beitragen können, nachdem der faktische Einsatzabb­ruch die Rutschbahn Richtung Bürgerkrie­g geschmiert hat. Dieses Dilemma ist in der aktuellen Diskussion um den Nato-Abzug kein Thema, sollte es aber sein.

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Foto: AP / Hauke-Christian Dittrich Nach dem Abzug der internatio­nalen, darunter auch deutschen, Truppen ist die Zukunft des Landes ungewiss.

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