Türkise Vielfalt zur Generalswahl
Totzauers ORF-Bewerbung irritiert in der ÖVP-nahen Mehrheit
Die türkise Mehrheitsfraktion im Stiftungsrat hat ihre zweite Vorbesprechung der Generalswahl, geplant für kommenden Montag in der Politischen Akademie der ÖVP, vorerst ohne Ersatztermin abgesagt. Mit Lisa Totzauers (50) offizieller Bewerbung für den obersten ORF-Job dürfte das nur eher zufällig zeitlich zusammengefallen sein. Die erste deklarierte bürgerliche Kandidatin macht die Generalswahl für die ÖVP nicht unbedingt leichter.
Der bisher als wahrscheinlichster Kandidat aus dem bürgerlichen Lager gehandelte Vizefinanzdirektor des ORF, Roland Weißmann (53), hat bisher nicht Stellung genommen, ob er tatsächlich antritt. Weißmann nahm wie berichtet an der ersten vorbereitenden Sitzung des türkisen Freundeskreises teil und gilt als aussichtsreichster Kandidat.
Totzauer grätschte am Dienstag mit ihrer an das ORF-Publikum gerichteten Videobewerbung in das Vakuum bürgerlicher Kandidaturen gegen den schon deklarierten Titelverteidiger Alexander Wrabetz – nicht zur einhelligen Begeisterung im bürgerlichen Freundeskreis der Stiftungsräte. Kanzler (und damit Medienminister) und ÖVP-Chef Sebastian Kurz sagte Oe24.tv nur sehr knapp auf die Frage nach Totzauers Bewerbung: „Ich habe es registriert, werde es aber nicht von New York aus kommentieren.“
Halbzeitlösung
Was bedeutet Totzauers Antreten – und damit voraussichtlich mehrerer bürgerlicher Kandidatinnen und Kandidaten – für die Generalswahl am 10. August und für Alexander Wrabetz, der sich für eine weitere Amtszeit ab 2022 bewerben wird?
Unter sachkundigen Beobachtern aus ORF, Politik und Stiftungsrat gibt es – auch je nach eigenem Blickwinkel – unterschiedliche Interpretationen. Zwei der Möglichkeiten:
Mehrere bürgerliche Kandidatinnen und Kandidaten könnten die bürgerliche Mehrheitsfraktion spalten und damit womöglich die Chancen von Alexander Wrabetz erhöhen, der schon gezeigt hat, dass er recht bunte Koalitionen im Stiftungsrat zuwege bringt – 2006 etwa gegen die Kanzlerpartei ÖVP mit deren freiheitlichem Regierungspartner BZÖ, der FPÖ, den Grünen, der SPÖ und unabhängigen Stiftungsräten. Damals hatte die ÖVP nicht allein die entscheidende Mehrheit.
Variante zwei: Mit mehreren bürgerlichen Kandidaten und Kandidatinnen können die bürgerlichen Stiftungsräte nur schwer intern angesichts der ersten bürgerlichen Mehrheit seit Jahrzehnten argumentieren, dass sie für – den Sozialdemokraten zugerechneten – Wrabetz stimmen. Auch wenn das wohl nach außen das geringste Aufsehen machte und die geringste Gefahr von Vorwürfen der „Orbánisierung“birgt.
In den vergangenen Wochen kursierte wieder die Möglichkeit einer Halbzeitlösung mit der Verlängerung von Alexander Wrabetz als General und Weißmann vorerst als Finanzdirektor, der mit einer ORF-Gesetzesnovelle 2023 oder 2024 die Nummer-eins-Position übernehmen könnte. Eine bürgerliche Bewerberin erleichtert auch die Variante nicht.
Doch die türkisen Stiftungsräte haben jetzt erstmals seit Jahrzehnten eine Mehrheit. Im Frühjahr 2022 wird der Stiftungsrat turnusmäßig neu beschickt, je nach Regierungskonstellation wohl mit weiterhin starker ÖVP-Dominanz. Doch jede neue Regierungskonstellation, jede Nationalratswahl und jede Landtagswahl ändert die Verhältnisse auch im obersten ORF-Gremium.
Der türkise Freundeskreis wird sich schon noch zur Generalswahl besprechen. Der kommende Montag aber war wohl schon zu öffentlich bekannt – und auch zu früh für eine Entscheidung. (fid)
„Ich habe es registriert, aber ich werde es nicht von New York aus kommentieren.“Sebastian Kurz