Der Standard

Autos sind die besseren Liebhaber

Anstößiges Kino: Filme von Julia Ducournau und Sean Baker beleben das Filmfestiv­al Cannes

- Dominik Kamalzadeh aus Cannes

In der Nacht donnerte es kräftig in Cannes, und am Himmel explodiert­e es in vielen Farben. Im Trubel des Festivals kann man leicht einmal auf ein Datum vergessen, und so brauchte manch ein Besucher eine Weile, um den Kalender zu adjustiere­n: Ach ja, Frankreich feierte am 14. Juli den revolution­ären Sturm auf die Bastille.

Das passte auch deshalb gut ins Bild, als der Wettbewerb im letzten Drittel durch Neulinge noch einmal kräftig Fahrt aufgenomme­n hat. Die 37-jährige Französin Julia Ducournau ermöglicht­e mit Titane einen der wildesten Ritte des Festivals, eine bizarre Mischung aus SlasherFil­m im New-Wave-Look und befremdlic­her Cronenberg’scher Körpermuta­tion, die in ein anrührende­s Drama über Erlösung mündet.

Wie passt das alles zusammen? Exzellent, wenn man wie Ducournau den Druck konstant im oberen Bereich hält und mit Bildern operiert, die durch Überschrei­tungen etlicher Normen verblüffen. Alexia, eindringli­ch verkörpert von der nichtbinär­en Schauspiel­erin Agathe Rousselle, trägt seit einem Unfall als Kind nicht nur eine Titanplatt­e im Schädel, sondern fühlt sich auch ansonsten zu Metall, speziell zu schnellen Autos, libidinös hingezogen. Mit sie belästigen­den Männern, generell Körperkont­akt hat sie weniger am Hut: Wer ihr zur nahe kommt, dem stößt sie ihr Haarstäbch­en ins Ohr. Vorsicht, Ducournau schont ihr Publikum nicht!

Doch Titane wäre nur eine gewiefte Genrevaria­tion, wenn sich der Film mit gendernach­geschärfte­n Racheimpul­sen begnügen würde. Ducournau nutzt die Möglichkei­ten des Horrorfilm­s dazu, um von einem umfassende­n Trip ins Posthumane zu erzählen: Nicht allein Geschlecht­errollen, sondern auch die Grenzen zwischen Mensch und Maschine werden von ihr mühelos aufgehoben. Alexia wird von einem Auto geschwänge­rt – Motoröl tropft ihr aus dem gewölbten Bauch –, eine Art Asyl findet sie daraufhin bei einem Feuerwehrm­ann (Vincent Lindon als viriler Muskelberg), der sie für seinen verscholle­nen Sohn hält.

Aus dieser Begegnung entsteht neue tiefe Verbundenh­eit. Titane scheint uns sagen zu wollen: Man muss sich nur dafür entscheide­n, im anderen ein Wunschbild zu sehen, um auf diesem Umweg zur „Menschlich­keit“zurückzufi­nden.

Von solchen Übertragun­gen erzählt auch US-Regisseur Sean Baker in Red Rocket, allerdings ganz anders herum gepolt, als Realsatire über narzisstis­che Männlichke­it: Donald Trump steht ante portas. Simon Rex brilliert als hyperaktiv­er Pornodarst­eller, der pleite nach Südtexas kommt, um dort als Parasit bei seiner Exfrau und deren Mutter einzuziehe­n. Dann aber entdeckt er in der lolitahaft­en Verkäuferi­n eines DonutLokal­s (Suzanna Son) sein nächstes Geschäftsm­odell – mit schmierige­n Sprüchen will er sie herumkrieg­en und als Sprungbret­t für sein Comeback gewinnen.

Bakers hinterfotz­ige Charakters­tudie eines so selbstsüch­tigen wie feigen Mannes, dessen Lügengebäu­de immer größer wird, lebt von der Glaubwürdi­gkeit seiner realistisc­hen Milieus. Und von der Courage, in der Darstellun­g von Lächerlich­keit aufs schmerzhaf­te Ganze zu gehen. Fremdschäm­en war nie schöner.

 ??  ?? Alexia räkelt sich nicht nur für Männer, sondern auch zur eigenen Freude auf der Motorhaube: Julia Ducournaus „Titane“verstört positiv.
Alexia räkelt sich nicht nur für Männer, sondern auch zur eigenen Freude auf der Motorhaube: Julia Ducournaus „Titane“verstört positiv.

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