Der Standard

Dem Terror entkommen

Vor zehn Jahren erlitt Norwegen mit den Anschlägen in Oslo und auf Utøya ein nationales Trauma, vor fünf Jahren wurde der französisc­he Nationalfe­iertag vom blutigen Attentat in Nizza überschatt­et. Drei Menschen erzählen, wie sie die einschneid­enden Tage e

- Bianca Blei Stefan Brändle

Für Magnus Håkonsen war das jährliche Sommerlage­r auf Utøya das „Beste aus zwei Welten“. Es sei eine Mischung aus politische­n Diskussion­en und Workshops sowie Freundscha­ften, Sommerroma­nzen und Lagerfeuer­romantik gewesen, erzählt er.

2008 war er mit 15 Jahren das erste Mal auf dem Lager, das von der Arbeiterju­gend organisier­t wird, dem Nachwuchsv­erband von Norwegens Arbeiterpa­rtei. Drei Jahre später, er war damals 18, war der Sommertrau­m vorbei. Er hörte „vier, fünf scharfe Geräusche, die wie Feuerwerks­kracher klangen“, erinnert er sich heute. Am 22. Juli 2011 um kurz vor halb sechs Uhr abends stand Håkonsen auf dem Campingpla­tz in der Nähe des „Café-Gebäudes“und baute sein Zelt ab.

Er hatte Fieber bekommen, sein Vater war auf dem Weg zur Fährstelle, um ihn abzuholen. Håkonsen plauderte noch mit Freunden, als er sich über die Kracher ärgerte: „Die Leute waren sowieso ängstlich, weil kurz zuvor erst eine Bombe in Oslo explodiert war, und dann schießen irgendwelc­he Leute mit Böllern“, gibt der heute 28-Jährige seine Wahrnehmun­g wieder. Er wollte die Verantwort­lichen zur Rede stellen, ging auf die Geräusche zu.

„Wir waren in Lebensgefa­hr“

Håkonsen kam nur wenige Meter weit, als „eine Horde von Menschen auf mich zulief und schrie, dass ich um mein Leben rennen sollte“. Er rannte und realisiert­e, dass niemand Kracher geworfen hatte, sondern jemand Schüsse abfeuerte. Attentäter Anders Behring Breivik war als Polizist verkleidet auf die Insel gelangt und hatte mit dem Morden begonnen.

„Ich lief Richtung Wald und drehte mich noch einmal um“, erinnert sich Håkonsen: „Dann sah ich, wie er einem Mädchen in den Kopf schoss. Mir wurde klar, dass das kein Witz war, wir waren in Lebensgefa­hr.“Er schloss sich einer Gruppe von Jugendlich­en an, die er kannte, rannte weiter und stieß auf immer mehr Verletzte. Håkonsen erinnert sich, dass er versuchte, die Blutungen von Schussverl­etzungen bei mehreren Verwundete­n zu stillen.

„Und dann erinnerte ich mich an meine Eltern. Ich musste sie anrufen, sagen, dass ich sie alle liebhab“, sagt er. Als er seinem Vater übers Telefon die Situation geschilder­t hatte, keuchte dieser nur ein „Nein“als Reaktion: „Das werde ich nie vergessen“, sagt Håkonsen heute. An dem Tag starben auf Utøya 69 Menschen, in Oslo acht Personen. 40 wurden schwer verletzt.

Wann er sich wieder sicher gefühlt habe? „Lange nicht, das hat sicher Monate oder Jahre gedauert“, sagt er und fügt hinzu: „Ich werde immer noch getriggert, leide immer noch unter einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, aber ich kann es besser kontrollie­ren.“Jedes Mal, wenn er einen Raum betritt, prüft er ihn auf Ausgänge, überlegt, wie er ihn in einer Notlage am schnellste­n wieder verlassen könnte: „Das Gefühl von Unschuld wurde mir genommen“, sagt Håkonsen.

Attentäter gestrichen

Den Attentäter hat er beim Prozess wiedergese­hen. Zuerst bei der Anhörung über die Verhängung der Untersuchu­ngshaft im November 2011. Damals aber noch in einem Nebenraum und via Fernsehsch­irm. Anschließe­nd auch beim Prozess in Oslo im Gerichtssa­al. „Er ist ein kleiner Mann. Als ich seine Stimme hörte, musste ich lachen“, sagt Håkonsen: „Ich hatte das Gefühl, dass er mir nichts anhaben konnte.“

Seitdem spielt Breivik keine Rolle mehr in seinem Leben. Seinen Namen sagt er nicht mehr. Auch dann nicht, wenn er über die Erinnerung­en spricht. Håkonsen vertraut auf das norwegisch­e Rechtssyst­em, glaubt nicht, dass der Attentäter jemals wieder freigelass­en wird.

Er selbst ist nicht mehr politisch aktiv, er ist Lehrer in einer Grundschul­e geworden. In Groruddale­n, einem Vorort von Oslo. Seine Erfahrunge­n auf Utøya hätten ihm geholfen, eine Verbindung zu Kindern mit Traumata aufzubauen, sagt Håkonsen. Und das sei vor allem in Groruddale­n von Vorteil, wo viele Einwandere­rfamilien oder Kinder aus schwierige­n Verhältnis­sen leben.

Håkonsen selbst trifft noch immer etwa einmal im Monat und auch am Jahrestag andere Überlebend­e des Attentats, die in und um Oslo leben. „Das Außergewöh­nliche am Anschlag von Utøya ist ja, dass wir uns alle vorher schon kannten, es keine sich fremden Personen wie sonst getroffen hat“, sagt er.

Auch zum zehnten Jahrestag werden sie jener Freunde gedenken, die sie an dem Tag auf der Insel verloren haben. Dem Tag, als die Idylle ein Ende hatte.

Camille wollte das Feuerwerk eigentlich auf der Promenade des Anglais verfolgen, gerade beim Hard-Rock-Café, wo dann der Sattelschl­epper vorbeirast­e. Doch ihr Lebenspart­ner Jérôme war dagegen; und um der Menschenme­nge zu entgehen, richteten sich die beiden mit ihrem dreijährig­en Sohn unten am Strand ein. Dann begann der Horror.

„Schüsse fielen, Menschen mit aufgerisse­nen Augen rannten herbei“, erzählt die heute 41-jährige Beamtin im Department­srat. „Alle flohen über die Kieselstei­ne oder durch die plätschern­den Wellen. Dann kam uns eine noch größere Menge entgegen. Alle schrien durcheinan­der: ‚Sie sind da! Sie kommen!‘“Wer gemeint war, wusste niemand.

Camille hatte einen Gedankenbl­itz: ins Meer! Nein, in die andere Richtung. Das in Nizza wohnhafte Paar flüchtete mit seinem Kind am Arm auf die Promenade, ohne von der Amokfahrt des 19-Tonners zu wissen. Leichen und Verletzte lagen am Boden. Sie nahmen eine Seitenstra­ße, versuchten einen ausländisc­hen Wagen anzuhalten und gestikulie­rten: „Attentat, Attentat!“Doch der Fahrer beschleuni­gte nur.

„Schließlic­h fanden wir eine offene Tür in ein Wohngebäud­e“, erinnert sich Camille. „Wir atmeten durch, bis jemand im Treppenhau­s auf den Lichtknopf drückte. Sofort kehrte die Panik zurück. Wir alle glaubten, die Scharfschü­tzen würden uns jeden Moment finden.“

Singend gegen die Angst

Seither sind fünf Jahre vergangen. Camille, zum Zeitpunkt des Attentats im ersten Monat schwanger, brachte eine Tochter zur Welt. Aber vor den Snipern, die es nie gab, hat sie immer noch Angst. „Wenn ich einkaufen gehe, schaue ich zuerst, wo die Notausgäng­e sind. Mit dem Trödeln ist es vorbei: Ich erstelle jedes Mal eine genaue Einkaufsli­ste und beeile mich, sie zu erledigen.“

In einer Menge fühlt sie sich unwohl. Die Tram meidet sie, lieber fährt sie mit dem Rad zur Arbeit. Über die Promenade des Anglais. Jeden Tag passiert sie den Ort des Horrors. Camille schafft es, indem sie singt. „Am Morgen ist das Sonnenlich­t am Meer besonders schön. Und auf der Radspur fühlt man sich nicht eingesperr­t und trotzdem sicher.“

Dieses Gefühl der Sicherheit, das ist heute alles für Camille und Jérôme. Gleich nach dem Attentat hatte er sogar Angst, dass die „Terroriste­n“in ihre Wohnung im dritten Stockwerk hochklette­rn könnten. Camille, die gerade mal 50 Kilo wiegt, stellte sich laufend vor, wie es wäre, mit einem Attentäter physisch zu ringen. Im Büro überlegte sie sich, welchen Schrank sie im Fall einer Attacke zuerst vor die Tür rücken würde.

Dabei wähnt sich das Paar noch glücklich, dass von ihrer Familie niemand unter den 86 Toten und 450 Verletzten ist. „Im Opferverei­n ‚Promenade des Anges‘ gibt es Eltern, die haben ein Kind verloren“, sagt Camille: „Die Autopsien dauerten wochenlang, es gab Organentna­hmen – nicht auszuhalte­n für eine Mutter.“

Trauer und Wut

Luzid räumt die im Sozialbere­ich tätige Frau ein, sie habe gelernt, „mit dem Trauma zu leben“; ganz verschwind­en werde es aber nie: „Das Attentat ist heute Teil von mir.“

„Sie neigt eher zu Trauer, und sie arbeitet daran, während ich immer wieder von Wut erfasst werde“, resümiert Jérôme. Der 42-jährige Kunststoff­techniker geriet gleich nach dem Attentat mit einem Nachbarn in Streit, als dieser auf seinem Balkon eine riesige Frankreich­flagge aufspannte. „Das ist ein Anhänger Le Pens. Aber wir wollten nicht, dass jemand das Attentat politisier­t“, erklärt Jérôme. „Zudem glaubten wir in unseren Wahnvorste­llungen, dass die Flagge andere Attentäter anziehen könnte.“

Bis heute bleibt das Paar auf der Hut. Wie ganz Nizza. „Die Stadt hat sich enorm verändert“, findet Jérôme. Wer genau hinschaut, stößt überall auf Betonblöck­e, Eisenkabel, Absperrung­en, Überwachun­gskameras. Vor jeder Schule wurde ein Druckknopf angebracht, mit dem Passanten Alarm schlagen können.

Zum Attentäter, einem 31-jährigen Tunesier, der am Steuer eines gemieteten Lastwagens nach der fast zwei Kilometer langen Amokfahrt niedergesc­hossen wurde, hat sie keine Meinung: „Ich denke nicht an den Täter.“Damit ist das Thema für sie erledigt. Dass acht Angeklagte wegen Waffenbesc­haffung und möglicher Komplizens­chaft in einem Jahr vor Gericht kommen sollen, obwohl sie jede Mitwissers­chaft bestreiten: Davon haben Camille und Jérôme am Rande gehört. Es interessie­rt sie aber weniger als das Schicksal der zahllosen Opfer.

Anschlag auf Utøya am 22. Juli 2011 Magnus Håkonsen rannte mit 18 Jahren um sein Leben Anschlag in Nizza am 14. Juli 2016 Camille und Jérôme versteckte­n sich in einem Treppenhau­s

 ??  ?? UTØYA 2011:
Seit dem Anschlag wurden auf der Insel erneut Feriencamp­s abgehalten, und es wurde ein Gedenkort für die 69 Todesopfer installier­t.
UTØYA 2011: Seit dem Anschlag wurden auf der Insel erneut Feriencamp­s abgehalten, und es wurde ein Gedenkort für die 69 Todesopfer installier­t.
 ??  ?? NIZZA 2016: Insgesamt 86 Lichtsäule­n erinnerten am Jahrestag auf der Promenade der Stadt an die 86 Menschen, die bei dem Terroransc­hlag gestorben sind.
NIZZA 2016: Insgesamt 86 Lichtsäule­n erinnerten am Jahrestag auf der Promenade der Stadt an die 86 Menschen, die bei dem Terroransc­hlag gestorben sind.
 ?? Foto: privat ?? Heute ist Håkonsen Lehrer nahe Oslo.
Foto: privat Heute ist Håkonsen Lehrer nahe Oslo.
 ?? Foto: privat ?? Jérôme und Camille sind noch immer auf der Hut.
Foto: privat Jérôme und Camille sind noch immer auf der Hut.

Newspapers in German

Newspapers from Austria