Dem Terror entkommen
Vor zehn Jahren erlitt Norwegen mit den Anschlägen in Oslo und auf Utøya ein nationales Trauma, vor fünf Jahren wurde der französische Nationalfeiertag vom blutigen Attentat in Nizza überschattet. Drei Menschen erzählen, wie sie die einschneidenden Tage e
Für Magnus Håkonsen war das jährliche Sommerlager auf Utøya das „Beste aus zwei Welten“. Es sei eine Mischung aus politischen Diskussionen und Workshops sowie Freundschaften, Sommerromanzen und Lagerfeuerromantik gewesen, erzählt er.
2008 war er mit 15 Jahren das erste Mal auf dem Lager, das von der Arbeiterjugend organisiert wird, dem Nachwuchsverband von Norwegens Arbeiterpartei. Drei Jahre später, er war damals 18, war der Sommertraum vorbei. Er hörte „vier, fünf scharfe Geräusche, die wie Feuerwerkskracher klangen“, erinnert er sich heute. Am 22. Juli 2011 um kurz vor halb sechs Uhr abends stand Håkonsen auf dem Campingplatz in der Nähe des „Café-Gebäudes“und baute sein Zelt ab.
Er hatte Fieber bekommen, sein Vater war auf dem Weg zur Fährstelle, um ihn abzuholen. Håkonsen plauderte noch mit Freunden, als er sich über die Kracher ärgerte: „Die Leute waren sowieso ängstlich, weil kurz zuvor erst eine Bombe in Oslo explodiert war, und dann schießen irgendwelche Leute mit Böllern“, gibt der heute 28-Jährige seine Wahrnehmung wieder. Er wollte die Verantwortlichen zur Rede stellen, ging auf die Geräusche zu.
„Wir waren in Lebensgefahr“
Håkonsen kam nur wenige Meter weit, als „eine Horde von Menschen auf mich zulief und schrie, dass ich um mein Leben rennen sollte“. Er rannte und realisierte, dass niemand Kracher geworfen hatte, sondern jemand Schüsse abfeuerte. Attentäter Anders Behring Breivik war als Polizist verkleidet auf die Insel gelangt und hatte mit dem Morden begonnen.
„Ich lief Richtung Wald und drehte mich noch einmal um“, erinnert sich Håkonsen: „Dann sah ich, wie er einem Mädchen in den Kopf schoss. Mir wurde klar, dass das kein Witz war, wir waren in Lebensgefahr.“Er schloss sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die er kannte, rannte weiter und stieß auf immer mehr Verletzte. Håkonsen erinnert sich, dass er versuchte, die Blutungen von Schussverletzungen bei mehreren Verwundeten zu stillen.
„Und dann erinnerte ich mich an meine Eltern. Ich musste sie anrufen, sagen, dass ich sie alle liebhab“, sagt er. Als er seinem Vater übers Telefon die Situation geschildert hatte, keuchte dieser nur ein „Nein“als Reaktion: „Das werde ich nie vergessen“, sagt Håkonsen heute. An dem Tag starben auf Utøya 69 Menschen, in Oslo acht Personen. 40 wurden schwer verletzt.
Wann er sich wieder sicher gefühlt habe? „Lange nicht, das hat sicher Monate oder Jahre gedauert“, sagt er und fügt hinzu: „Ich werde immer noch getriggert, leide immer noch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, aber ich kann es besser kontrollieren.“Jedes Mal, wenn er einen Raum betritt, prüft er ihn auf Ausgänge, überlegt, wie er ihn in einer Notlage am schnellsten wieder verlassen könnte: „Das Gefühl von Unschuld wurde mir genommen“, sagt Håkonsen.
Attentäter gestrichen
Den Attentäter hat er beim Prozess wiedergesehen. Zuerst bei der Anhörung über die Verhängung der Untersuchungshaft im November 2011. Damals aber noch in einem Nebenraum und via Fernsehschirm. Anschließend auch beim Prozess in Oslo im Gerichtssaal. „Er ist ein kleiner Mann. Als ich seine Stimme hörte, musste ich lachen“, sagt Håkonsen: „Ich hatte das Gefühl, dass er mir nichts anhaben konnte.“
Seitdem spielt Breivik keine Rolle mehr in seinem Leben. Seinen Namen sagt er nicht mehr. Auch dann nicht, wenn er über die Erinnerungen spricht. Håkonsen vertraut auf das norwegische Rechtssystem, glaubt nicht, dass der Attentäter jemals wieder freigelassen wird.
Er selbst ist nicht mehr politisch aktiv, er ist Lehrer in einer Grundschule geworden. In Groruddalen, einem Vorort von Oslo. Seine Erfahrungen auf Utøya hätten ihm geholfen, eine Verbindung zu Kindern mit Traumata aufzubauen, sagt Håkonsen. Und das sei vor allem in Groruddalen von Vorteil, wo viele Einwandererfamilien oder Kinder aus schwierigen Verhältnissen leben.
Håkonsen selbst trifft noch immer etwa einmal im Monat und auch am Jahrestag andere Überlebende des Attentats, die in und um Oslo leben. „Das Außergewöhnliche am Anschlag von Utøya ist ja, dass wir uns alle vorher schon kannten, es keine sich fremden Personen wie sonst getroffen hat“, sagt er.
Auch zum zehnten Jahrestag werden sie jener Freunde gedenken, die sie an dem Tag auf der Insel verloren haben. Dem Tag, als die Idylle ein Ende hatte.
Camille wollte das Feuerwerk eigentlich auf der Promenade des Anglais verfolgen, gerade beim Hard-Rock-Café, wo dann der Sattelschlepper vorbeiraste. Doch ihr Lebenspartner Jérôme war dagegen; und um der Menschenmenge zu entgehen, richteten sich die beiden mit ihrem dreijährigen Sohn unten am Strand ein. Dann begann der Horror.
„Schüsse fielen, Menschen mit aufgerissenen Augen rannten herbei“, erzählt die heute 41-jährige Beamtin im Departmentsrat. „Alle flohen über die Kieselsteine oder durch die plätschernden Wellen. Dann kam uns eine noch größere Menge entgegen. Alle schrien durcheinander: ‚Sie sind da! Sie kommen!‘“Wer gemeint war, wusste niemand.
Camille hatte einen Gedankenblitz: ins Meer! Nein, in die andere Richtung. Das in Nizza wohnhafte Paar flüchtete mit seinem Kind am Arm auf die Promenade, ohne von der Amokfahrt des 19-Tonners zu wissen. Leichen und Verletzte lagen am Boden. Sie nahmen eine Seitenstraße, versuchten einen ausländischen Wagen anzuhalten und gestikulierten: „Attentat, Attentat!“Doch der Fahrer beschleunigte nur.
„Schließlich fanden wir eine offene Tür in ein Wohngebäude“, erinnert sich Camille. „Wir atmeten durch, bis jemand im Treppenhaus auf den Lichtknopf drückte. Sofort kehrte die Panik zurück. Wir alle glaubten, die Scharfschützen würden uns jeden Moment finden.“
Singend gegen die Angst
Seither sind fünf Jahre vergangen. Camille, zum Zeitpunkt des Attentats im ersten Monat schwanger, brachte eine Tochter zur Welt. Aber vor den Snipern, die es nie gab, hat sie immer noch Angst. „Wenn ich einkaufen gehe, schaue ich zuerst, wo die Notausgänge sind. Mit dem Trödeln ist es vorbei: Ich erstelle jedes Mal eine genaue Einkaufsliste und beeile mich, sie zu erledigen.“
In einer Menge fühlt sie sich unwohl. Die Tram meidet sie, lieber fährt sie mit dem Rad zur Arbeit. Über die Promenade des Anglais. Jeden Tag passiert sie den Ort des Horrors. Camille schafft es, indem sie singt. „Am Morgen ist das Sonnenlicht am Meer besonders schön. Und auf der Radspur fühlt man sich nicht eingesperrt und trotzdem sicher.“
Dieses Gefühl der Sicherheit, das ist heute alles für Camille und Jérôme. Gleich nach dem Attentat hatte er sogar Angst, dass die „Terroristen“in ihre Wohnung im dritten Stockwerk hochklettern könnten. Camille, die gerade mal 50 Kilo wiegt, stellte sich laufend vor, wie es wäre, mit einem Attentäter physisch zu ringen. Im Büro überlegte sie sich, welchen Schrank sie im Fall einer Attacke zuerst vor die Tür rücken würde.
Dabei wähnt sich das Paar noch glücklich, dass von ihrer Familie niemand unter den 86 Toten und 450 Verletzten ist. „Im Opferverein ‚Promenade des Anges‘ gibt es Eltern, die haben ein Kind verloren“, sagt Camille: „Die Autopsien dauerten wochenlang, es gab Organentnahmen – nicht auszuhalten für eine Mutter.“
Trauer und Wut
Luzid räumt die im Sozialbereich tätige Frau ein, sie habe gelernt, „mit dem Trauma zu leben“; ganz verschwinden werde es aber nie: „Das Attentat ist heute Teil von mir.“
„Sie neigt eher zu Trauer, und sie arbeitet daran, während ich immer wieder von Wut erfasst werde“, resümiert Jérôme. Der 42-jährige Kunststofftechniker geriet gleich nach dem Attentat mit einem Nachbarn in Streit, als dieser auf seinem Balkon eine riesige Frankreichflagge aufspannte. „Das ist ein Anhänger Le Pens. Aber wir wollten nicht, dass jemand das Attentat politisiert“, erklärt Jérôme. „Zudem glaubten wir in unseren Wahnvorstellungen, dass die Flagge andere Attentäter anziehen könnte.“
Bis heute bleibt das Paar auf der Hut. Wie ganz Nizza. „Die Stadt hat sich enorm verändert“, findet Jérôme. Wer genau hinschaut, stößt überall auf Betonblöcke, Eisenkabel, Absperrungen, Überwachungskameras. Vor jeder Schule wurde ein Druckknopf angebracht, mit dem Passanten Alarm schlagen können.
Zum Attentäter, einem 31-jährigen Tunesier, der am Steuer eines gemieteten Lastwagens nach der fast zwei Kilometer langen Amokfahrt niedergeschossen wurde, hat sie keine Meinung: „Ich denke nicht an den Täter.“Damit ist das Thema für sie erledigt. Dass acht Angeklagte wegen Waffenbeschaffung und möglicher Komplizenschaft in einem Jahr vor Gericht kommen sollen, obwohl sie jede Mitwisserschaft bestreiten: Davon haben Camille und Jérôme am Rande gehört. Es interessiert sie aber weniger als das Schicksal der zahllosen Opfer.
Anschlag auf Utøya am 22. Juli 2011 Magnus Håkonsen rannte mit 18 Jahren um sein Leben Anschlag in Nizza am 14. Juli 2016 Camille und Jérôme versteckten sich in einem Treppenhaus