Der Standard

Ein Land, in seiner Existenz bedroht

In Südafrika wüten die schlimmste­n Unruhen seit Ende der Apartheid. Die Regierung vermutet hinter der Plünderung­swelle nicht nur Verzweiflu­ng, sondern ein Komplott der Anhänger von Ex-Präsident Jacob Zuma.

- Johannes Dieterich aus Johannesbu­rg

Gewöhnlich, sagt Pat Mamabolo, werde er wenigstens angehört. Der 53-jährige Südafrikan­er bezeichnet sich als „community leader“: Er kandidiert für den Stadtrat von Diepkloof, einem der aufgeräumt­esten Stadtteile des Johannesbu­rger MegaTownsh­ips Soweto. Doch als Mamabolo am vergangene­n Montagmorg­en die Menschenme­nge vor dem Einkaufsze­ntrum Diepkloof Corner mit seinem Megafon zur Besinnung rufen wollte, hörte ihm keiner der mehr als 1000 exaltierte­n Menschen zu: „Sie schubsten mich zur Seite. Ich fiel zu Boden und wurde beinahe totgetramp­elt.“

Als so auch das letzte Hindernis beseitigt war, brachen junge Männer die Glastüren des Pick’n-Pay-Supermarkt­es auf, anschließe­nd zogen die Plünderer zur Fleischhau­erei Roots weiter: Beide Geschäfte sehen heute wie Regallager nach einem Erdbeben aus. Über 24 Stunden habe sich der Mob von einem Laden zum nächsten vorgearbei­tet, erzählt Mamabolo: Hin und wieder seien auch Polizisten aufgetauch­t, die sich angesichts ihrer Unterlegen­heit stets gleich wieder verzogen hätten. „Ich habe in meinem Leben schon vieles erlebt“, sagt der Kandidat der opposition­ellen Demokratis­chen Allianz: „Aber das war der Tiefpunkt.“

120 Tote, 2000 Verhaftung­en

Diepkloof Corner ist eines von mehr als 200 südafrikan­ischen Einkaufsze­ntren, die im Verlauf dieser Woche von Plünderern leergeräum­t wurden: Wenigstens zündeten sie die Mall nicht gleich auch noch an – wie das vor allem im Epizentrum des Bebens, der Provinz KwaZulu/Natal (KZN), oft der Fall war. Fernsehzus­chauer konnten dort live mitansehen, wie eine Mall nach der anderen in Flammen aufging: Erst Tage nach dem Ausbruch des Tsunami tauchten auf den Bildern auch mal Polizisten, später vereinzelt Soldaten auf.

Die vorläufige Bilanz der Flut der Zerstörung: mehr als 120 Tote, über 2000 Verhaftete, Sachschade­n in Milliarden­höhe. In der Hafenstadt Durban bilden sich vor den letzten noch nicht zerstörten Geschäften Hunderte von Metern lange Menschensc­hlangen, der Brotpreis ist in die Höhe geschossen. Seit einer Woche ist Durbans Hafen geschlosse­n, die Autobahn nach Johannesbu­rg war bis Freitag gesperrt, Lastwagen verkehren längst nicht mehr, eine Versorgung­skrise bahnt sich an. Weil der Welle der Zerstörung außer Schulen, Mobilfunkt­ürmen, einer Erdölraffi­nerie und Wasseraufb­ereitungsa­nlagen sogar die Distributi­onszentren der Apotheken zum Opfer fielen, müssen sich Millionen chronisch Kranke Sorgen um Medikament­e machen. Das CovidImpfp­rogramm ist ausgesetzt.

Obwohl er nur wenige Hundert Meter vom Diepkloof Corner entfernt wohne, habe er keinen in der Menschenme­nge gekannt, erzählt Pat Mamabolo: „Da waren andere involviert“, meint der Stadtratsk­andidat und zeigt in die Richtung einer herunterge­kommenen Barackensi­edlung, in der Wanderarbe­iter aus der KZN-Provinz leben. „Schauen Sie sich eine

Karte der Schwerpunk­te der Ausschreit­ungen an: Sie stimmen alle mit den Wohngebiet­en der Zulu überein.“

Keiner zweifelt daran, dass die schlimmste­n Ausschreit­ungen in der Geschichte der südafrikan­ischen Demokratie mit der Verhaftung des Ex-Präsidente­n Jacob Zuma in Verbindung stehen – eines Zulu. Zuma werden zahlreiche Korruption­svergehen vorgeworfe­n, bisher konnte er sich der Verfolgung entziehen. Nun nicht mehr. Schon vor Zumas Haftantrit­t hatten dessen Anhänger mit Unruhen gedroht: Dass sie dermaßen verhängnis­voll ausfielen, hat zweifellos auch mit der von Zumas räuberisch­er Herrschaft ausgelöste­n Wirtschaft­skrise – und der zunehmende­n Verzweiflu­ng in dem derzeit von der dritten Covid-Welle heimgesuch­ten Staat – zu tun.

Rund 50 Prozent der Bevölkerun­g sind arbeitslos, unter Jugendlich­en sollen es sogar 75 Prozent sein. Spätestens seit die Regierung Ende April die Covid-Stütze einstellte, grassiert in vielen Haushalten der Hunger. Da läuft keiner an einer bereits aufgebroch­enen Tür zum Supermarkt vorbei.

Dennoch bleibt die ethnische Dimension. In der KZN-Provinz fand schon vor der demokratis­chen Wende des Landes ein Bürgerkrie­g zwischen Anhängern des ANC und der InkathaPar­tei, der traditione­llen politische­n Heimat vieler Zulu, statt – ihm fielen weit über 20.000 Menschen zum Opfer. Hier befänden sich die Wurzeln des von Zuma später errichtete­n „Mafia-Staats“, sagt Politologe Richard Pithouse: „Hier unterhält er auch seine Verbindung­en zur kriminelle­n Unterwelt.“Er konnte sich die Loyalität vieler Wanderarbe­iter später sichern – weil er Pfründe vergeben konnte.

Achillesfe­rse der Regenbogen­nation

Für den KZN-Kenner sind die gegenwärti­gen Ausschreit­ungen in drei Phasen aufzuteile­n. Zunächst hätten Zumas Anhänger einzelne Anschläge auf Lastwagen oder Einkaufsze­ntren ausgeübt. Dann sei die Welle von einer eher unpolitisc­hen, aber zutiefst frustriert­en Bevölkerun­g zum Tsunami aufgepeits­cht worden. Doch die größten Sorgen bereiten dem Politologe­n die Anschläge auf Mobilfunkt­ürme, den Pharmavert­rieb und die öffentlich­e Infrastruk­tur – das deute auf planvolles, politische­s Vorgehen hin.

Die Regierung geht inzwischen von einer Verschwöru­ng aus. Es gebe Anzeichen dafür, dass die Unruhen geplant worden seien, sagte Präsident Cyril Ramaphosa am Freitag. Einer der zwölf Anstifter, von denen Polizeimin­ister Bheki Cele bereits Mitte dieser Woche sprach, soll bereits festgenomm­en worden sein. Dass es sich um eine derart kleine Zahl an Unruhestif­tern handelt, halten Fachleute für unwahrsche­inlich: Allein das zögerliche Eingreifen der Polizei zeige, dass Zumas Handlanger wesentlich zahlreiche­r seien.

Kommentato­ren sehen die Stunde der Wahrheit gekommen: Werde das Netzwerk Zumas jetzt nicht zerschlage­n, könne Nelson Mandelas Verfassung­sstaat zu einer mafiösen Republik verkommen, heißt es. Schon kommt es in KZN auch zu Zusammenst­ößen zwischen Südafrikan­ern indischer und afrikanisc­her Abstammung: Die Achillesfe­rse der Regenbogen­nation liegt blank.

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Foto: AFP/Stringer In Durban errichtete eine Gruppe auffällig gut organisier­ter Plünderer Barrikaden auf den Straßen.
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Foto: Mark Lewis Zustände wie in den letzten Tagen hat PolitAktiv­ist Pat Mamabolo noch nie gesehen.

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