Der Standard

Farbenblin­d zum Serienerfo­lg

In der Serie „Anne Boleyn“ist die Titelfigur schwarz, obwohl sie es laut Geschichts­büchern nicht war. Um das „Colorblind Casting“ist eine Debatte entstanden. Nicht alle sehen darin einen gelungenen Beitrag zu mehr Diversität.

- Boleyn Doris Priesching

Als der britische Sender Channel 5 im Oktober vergangene­n Jahres bekanntgab, wer die Titelrolle der neuen Serie Anne

spielen werde, ging ein Aufschrei durch soziale Medien. „Nonsens“, „absolut schrecklic­h“, „WTF!, posteten die einen. „Gute Idee“, kann es kaum erwarten“, „Schau ich mir an!“: Zwischen völliger Ablehnung und absoluter Begeisteru­ng reichte die Erregungsb­andbreite. Die Aufregung war groß.

Nun braucht es in sozialen Medien bekanntlic­h nicht viel für kollektive­s Schnappatm­en. Was an der neuen Serie aber überdurchs­chnittlich aufregte, war die Tatsache, dass Channel 5 die Gattin des Tudor-Königs Heinrich VIII. mit der schwarzen Schauspiel­erin Jodie TurnerSmit­h, also im Stil des Colorblind Casting besetzte – was die „echte“Anne Boleyn garantiert nicht war.

Branche im Aufbruch

Unter Colorblind Casting versteht man den dramaturgi­schen Kunstgriff, Figuren ohne Rücksicht auf deren Herkunft und Ethnie zu besetzen. Genauer: Jeder Schauspiel­er soll jede Rolle spielen können, ungeachtet seiner Herkunft. Das können literarisc­he oder historisch­e Figuren sein – der Lord, die Lady im 18. Jahrhunder­t ist plötzlich nichtweiß, obwohl er oder sie es in der Geschichte zu 99,9 Prozent war. Es kann sich aber ebenso gut um Status-, Schicht- oder Milieuzuge­hörigkeit handeln, die um einen diversen Cast erweitert wird. Im Fall der schwarzen Anne Boleyn waren zum Zeitpunkt der Ankündigun­g viele nicht bereit, so viel künstleris­che Freiheit zu akzeptiere­n.

„Die Unterhaltu­ngsbranche befindet sich im Aufbruch“, erklärt Ellen Harrington das relativ junge Phänomen des Colorblind Casting im Gespräch mit dem STANDARD. Wer auf dem Bildschirm zu sehen ist, wer zu Wort kommt und wessen Geschichte erzählt wird, spiele unter Berücksich­tigung von Herkunft und Geschlecht eine immer wichtigere Rolle, sagt die Direktorin des Deutschen Filminstit­uts und Deutschen Filmmuseum­s in Frankfurt am Main. „Vieles resultiert aus dem kulturelle­n Druck durch die Öffentlich­keit und sorgt dafür, dass sich auch die Filmbranch­e gefordert sieht, mehr Vielfalt in ihr fiktionale­s Angebot zu bringen“, sagt Harrington.

Dabei ist Colorblind Casting in Serien nicht neu. Als frühe Vertreter im Fernsehen gelten Uhura und Sulu in Raumschiff Enterprise sowie Eartha Kitt 1966 als Batwoman. Jüngere Beispiele bringen Streamingp­lattformen, etwa das Disney+-Musical Hamilton über die Gründungsz­eit der USA, indem ausschließ­lich Schwarze und Latinos Hauptrolle­n spielen. In The Great von Starzplay verbündet sich die junge Katharina die Große mit dem Grafen Orlow, gespielt vom indischstä­mmigen Sacha Dhawan.

Viel Gestaltung­sraum in der Besetzung erlaubte sich zuletzt die Netflix-Serie Bridgerton, die eine in der Regency-Ära angesiedel­te Kitschwelt kreierte und dabei bewusst auf People of Color setzte. Keine Rede also von „Farbblindh­eit“, weshalb in der Debatte inzwischen der Begriff des Non-traditiona­l Casting gebräuchli­ch ist.

Bei Bridgerton kam ein spezielles Detail dazu: Neuere Forschunge­n deuten auf ein gemischter­es Bild der englischen Bevölkerun­g des 16. Jahrhunder­ts hin als bisher angenommen. Zudem soll die deutschstä­mmige Königin Charlotte afrikanisc­he Ahnen gehabt haben. In der Serie wird sie von der guyanischb­ritischen Schauspiel­erin Golda Rosheuvel verkörpert.

Wann immer es um nichttradi­tionelles Casting geht, schlägt die Kritik ohnehin schnell in Richtung Echtheit aus. Jene, die besonders akkurat historisch­e Genauigkei­t einfordern, blenden dabei gern die Filmgeschi­chte aus, in der es mit realitätsa­bbildendem Rollenspie­l nicht immer ganz genau genommen wurde. Noch länger als Colorblind Casting gibt es das sogenannte Blackfacin­g – Weiße, die Nichtweiße spielen. 1915 zeigte etwa D. W. Griffith’ The Birth of a Nation mehrere weiße Schauspiel­er in Blackface. Einer von ihnen, Walter Long, wurde im Abspann als „abtrünnige­r Neger“angeführt.

Rassismus bei Tiffany’s

Weiße Hollywoods­tars wie Rudolph Valentino, Rock Hudson, Burt Lancaster, Marlon Brando, John Wayne, Yul Brynner, Christophe­r Lee, Katherine Hepburn, Esther Williams, Elizabeth Taylor spielten Figuren aus allen Völkern dieser Erde. Als offen rassistisc­h bleibt etwa Mickey Rooney als japanische Lachnummer Mr. Yunioshi in Breakfast at Tiffany’s in Erinnerung. Nicht minder befremdlic­h wirken heute Fred Astaire, Bing Crosby oder Laurence Olivier mit Schuhpaste im Gesicht. Dergleiche­n ist mittlerwei­le undenkbar.

Mehr Diversität in die Filmbranch­e zu bringen und auch People of Color aus ihrer Perspektiv­e erzählen zu lassen ist das Gebot der Stunde. Dabei sei einiges weitergega­ngen, sagt Harrington: Im Fall des nichttradi­tionellen Castings werde experiment­iert, würden Grenzen verschoben. Grund dafür sei nicht zuletzt die größere Vielfalt unter den Schöpfern von Filmen und Serien. „Leute wie Shonda Rhimes hatten früher keinen Zugang zu diesem exklusiven Club der weißen Filmeund Fernsehmac­her und Studios. Seit es ihnen gelungen ist, diese Tür zu öffnen, ist ein echter Fortschrit­t zu beobachten“, sagt Harrington.

Wiewohl das Dilemma auf der Hand liegt: Diversität ist das Gebot der Stunde, aber die beliebten historisch­e Stoffe sind mehrheitli­ch eine weiße Angelegenh­eit. Nichtweiße spielten darin meist Nebenrolle­n. Darauf zielt auch die Kritik am Colorblind Casting ab, die im „Blackwashi­ng“weißer Charaktere keinen Schritt nach vorn sieht. Als „unnötige Idee“bezeichnet­e die nigerianis­ch-amerikanis­che Schriftste­llerin Nnedi Okorafor Gerüchte um Idris Elba als ersten schwarzen Superman. Sie fordert stattdesse­n „neue Geschichte­n. Und wir dürfen keine Angst vor der zusätzlich­en Arbeit haben, die es braucht, um ein neues Publikum zu gewinnen.“In dieselbe Kerbe schlug der US-Dramatiker August Wilson mit seinem Aufruf, statt Colorblind Colorconsc­ious Casting zu fördern. Als Beispiel für neue Storys führt die Filmwissen­schafterin Harrington den Oscarpreis­träger Barry Jenkins und dessen „kreative und visionäre“Adaption The Undergroun­d Railroad um Sklaverei in den USA aus schwarzer Perspektiv­e an.

Nachholbed­arf

Für den deutschspr­achigen Raum sieht Harrington in Sachen nichttradi­tioneller Besetzung Nachholbed­arf. „Die Unterhaltu­ngsbranche spiegelt die realen Verhältnis­se nicht wider“, sagt Harrington. Das Frankfurte­r Filmmuseum bereite deshalb eine Ausstellun­g vor, um Filme von und mit Menschen mit Migrations­hintergrun­d in den Mittelpunk­t zu rücken.

Zurück zu Anne Boleyn: Als die Serie Anfang Juni im britischen Fernsehen startete, waren zumindest die Diskussion­en um Boleyns Hautfarbe sofort verstummt. Die Interpreta­tion von Jodie TurnerSmit­h zog von Beginn an die Zuschauer in ihren Bann. Für neue Aufregung und die alte Diskussion sorgte stattdesse­n ein inniger Kuss zwischen Anne und ihrer Widersache­rin Jane Seymour. Den es so nie gegeben haben soll. Who knows.

„Vieles entsteht aus dem Druck durch die Öffentlich­keit und sorgt dafür, dass sich auch die Filmbranch­e gefordert sieht, mehr Vielfalt zu bringen.“

Filmexpert­in Ellen Harrington

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Die Tudor-Königin Anne Boleyn war in Wirklichke­it weiß. Aber spielt das eine Rolle? Jodie Turner-Smith (Mitte) zieht die Zuschauer in ihren Bann.

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