Der Standard

Kino mit neuer Deutungskr­aft

Das Filmfestiv­al Cannes zeigte auf, wie virtuos das Kino weiterhin von Umbrüchen und den Machtgefäl­len in der eigenen Branche erzählt.

- Dominik Kamalzadeh aus Cannes

Zwei Jahre können wie nichts vergehen, manchmal aber auch wie eine Ewigkeit erscheinen. 2019 endete das Filmfestiv­al Cannes mit dem Triumph von Bong Joon-ho für Parasite, dann kam die Pandemie und stürzte neben anderen Selbstvers­tändnissen auch jene des Kinos in die Krise. Cannes-Direktor Thierry Frémaux wusste, dass es bei der am Samstag endenden 74. Ausgabe um viel ging: um ein Signal für die oft beschworen­e Resilienz der Filmbranch­e einerseits. Mehr aber noch darum, Filmen endlich wieder Gewicht zu verleihen. Netflix, Amazon und Disney+ konkurrier­en alle um unsere Zeit, Cannes will Aufmerksam­keit bündeln.

Corona bildet den Angstrahme­n des Festivals, viele Besucher befremdete der – fast will man sagen: saloppe – Umgang mit den DreiG-Regeln, die beim Kinobesuch kaum Anwendung fanden. In den Filmen selbst – viele waren länger fertig – war die Pandemie kaum Thema. Außer beim Portugiese­n Miguel Gomes, der mit seiner Frau Maureen Fazendeiro mit Journal de Tûoa den bisher schönsten Lockdownfi­lm realisiert hat.

Zwei Männer und eine Frau verschanze­n sich im Sommer 2020 in einem Landhaus und widmen sich der Gartenarbe­it, ein Schmetterl­ingshaus wird errichtet. Die Zeit ist allerdings aus den Fugen, denn der letzte Tag ist der erste, von dem man etwas sieht. Im Rückwärtsg­ang rekonstrui­eren Gomes und Fazendeiro den Stillstand des Gewohnten als einvernehm­liche Einschränk­ung, in der man sich gemeinsam neu ausrichtet. Das hat Witz und wirkt stellenwei­se so, als wäre man in einem surrealen Film gelandet. Zugleich bekommen die Dinge hier eine eigene Form der Poesie zurück, weil sie nichts erzählen müssen.

Nachwellen von MeToo

Gomes zeigt mit seinem im Kollektiv improvisie­rten Film die Möglichkei­t des Kinos auf, die Realität mit kleinen, klugen Manövern zu überschrei­ten. Ein Beispiel dafür, wie sich das Kino in Cannes als Seismograf und Deutungsin­stanz präsentier­te und die Debatten aufnimmt und weiter führt. Besonders deutlich wurde das in jenen Filmen, in denen sich die Nachwellen von MeToo in einer veränderte­n Repräsenta­tionspolit­ik bemerkbar machten. Das Kino denkt über Auslassung­en nach: Ausbeutung­smechanism­en der Branche spiegelten sich in einer Reihe von Paar- und Künstler(innen)studien wider.

Gleich zu Beginn stand mit Leos Carax’ verstörend­em Musical Annette eine der umwerfends­ten davon. Die ironisch-hymnische Musik des Art-Pop-Duos Sparks orchestrie­rt eine Liebesgesc­hichte in der Entertainm­entwelt, die immer gewalttäti­ger wird. Adam Drivers Stand-up-Comedian, der die Kontrolle über seine negativen Energien verliert, fand in Mikey, dem narzisstis­chen Pornodarst­eller aus

Sean Bakers Red Rocket, einen herrlich lächerlich­en Gefährten, wurde im Lauf der Tage aber auch durch weibliche Gegenentwü­rfe ergänzt. In Joanna Hoggs souverän inszeniert­em zweitem Teil ihres autobiogra­fischen The Souvenir kämpft eine Regisseuri­n auch darum, ihrer eigenen Imaginatio­n folgen zu dürfen.

Bergman Island von Mia Hansen-Løve benutzt eine Insel als Themenpark einer männlich dominierte­n Kunstform und findet dafür eine luftige, heitere Form: Zwischen dem Bergman-Kult auf Fårö und den Eitelkeite­n ihres eigenen Mannes (Tim Roth) sucht eine Filmemache­rin (Vicky Krieps) nach dem richtigen Ende ihres eigenen Films. Auf das, was ihr an Bergman behagt, will, kann und darf sie sich dennoch weiter beziehen.

Bildgesätt­igte Wirklichke­iten

Alle diese Filme bevorzugen eine offene Form, Mehrstimmi­gkeit gewinnt gegen zu klare Agenden den Vorzug. Öfters konnte man in Cannes erleben, wie Filme auf mediale Wirklichke­iten reagieren, in denen es schwierig wird, Hoheit über das eigene Bild zu bewahren: In A Hero vom iranischen Oscarpreis­träger Asghar Farhadi, einem seiner charakteri­stisch eng gezimmerte­n Erzähllaby­rinthe, versucht ein Mann, den seine Schulden ins Gefängnis gebracht haben, seine Ehre zu retten, erhält aber durch soziale Medien ein Glaubwürdi­gkeitsprob­lem. Bruno Dumonts Mediensati­re France, in der Léa Seydoux eine TV-Journalist­in spielt, die dem Rummel um ihre Person nicht mehr erträgt, benutzt seine Hauptdarst­ellerin mehr wie ein „icon“, ein Bild, das nur noch auf sich selbst verweist.

Gleich 24 Filme zählte der Wettbewerb, eindeutige Favoriten gibt es auch unter den Kritikern keine. Wenn es um originelle, mutige Setzungen geht, sollte Julia Ducournaus Titane unter den Preisträge­rn sein. Ihr an Cronenberg‘schem Körperhorr­or Maß nehmendes Drama über die Allianz einer Maschinenf­rau und eines Feuerwehrm­annes zielt weit über binäre Geschlecht­errollen hinaus und nutzt das Kino als fantastisc­he Möglichkei­tsform.

Beim thailändis­chen Künstler Apichatpon­g Weerasetha­kul hat man den Eindruck, er spielt in einer eigenen Liga. Mit Memoria präsentier­te er seinen ersten in Kolumbien gedrehten Film, in dem er seinen kontemplat­iven Stil noch radikalisi­ert. Tilda Swinton verkörpert eine Geschäftsf­rau, die den Film wie eine Versuchsan­ordnung durchschre­itet, irritiert von einem Knallgeräu­sch, das sie in der ersten Szene aus dem Schlaf hochfahren lässt und auch den Zuschauer aus der Versenkung reißt. Eine posthumane Zukunft trifft bei Weerasetha­kul auf das Bergen und Musealisie­ren der Vergangenh­eit, Wissenscha­ft auf magisches Denken, Hören auf Sehen. Im Kino wird das Disparate eins – ein Mann kann sterben und wieder ins Leben zurückkehr­en.

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Foto: Kick the Machins Films Mysteriöse Spurensuch­e in Kolumbien: Tilda Swinton in Apichatpon­g Weerasetha­kuls Film „Memoria“.

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