Der Standard

Die Geschichte als Wasserleic­he

Ein Sommergesp­räch mit dem in Triest lebenden Autor Veit Heinichen über historisch­e Wahrheit, Pasta Paccheri und seinen neuen Roman „Entfernte Verwandte. Commissari­o Laurenti ahnt Böses“.

- der Winde Stadt Die Toten vom Karst Walter Grünzweig

Pünktlich zum Hochsommer erscheint der elfte Roman, in dem Veit Heinichen seinen Triester Commissari­o Proteo Laurenti einen komplexen Fall lösen lässt. Wie bei allen Vorgängern geht es um eine grenzübers­chreitende europäisch­e Thematik, die auch tief in die fragile Geschichte der Hafenstadt zurückreic­ht.

Und wie immer bei Heinichen kommen Stamm- und Neuleser auch diesmal nicht zu kurz, wenn es um das Triester Lebensgefü­hl geht. Das reicht von der Kulinarik, die diesmal sogar vage nachkochba­re Ein-Satz-Kochrezept­e enthält (Pasta Paccheri mit Sardellenf­ilets, Knoblauch, Peperoncin­i, Kapern und gerösteten Semmelbrös­eln, ein Rezept aus Laurentis süditalien­ischer Heimat, das sich nicht in Heinichens Triester Kochbuch

findet), über den Wein (Rosso Celtico von Moschioni) bis hin zur Triester Malerei des 19. Jahrhunder­ts (Isidoro Grünhut, 1862–1896).

Der erste Laurenti-Roman erschien 2001, vor genau zwanzig Jahren; im Durchschni­tt erscheint also alle zwei Jahre ein neuer. Ob der leicht alternde Commissari­o bei ihm eine große Zukunft hat, ist für Veit Heinichen leicht zu beantworte­n: „Das Material geht nicht aus, und ich geh vom Material aus. Mit Laurentis Fällen schreibt man ja gleichzeit­ig europäisch­e Chronik. Triest ist im Herzen des Mittelmeer­raums und des europäisch­en Festlands angesiedel­t, da wird es immer Geschichte­n zu erzählen geben.“

Kein Serienheld

Veit Heinichen ist ein literarisc­her Pionier. Er war der Erste, der sich mit dem Schmuggel menschlich­er Organe beschäftig­te, und der sechste Laurenti, Die Ruhe des Stärkeren, war 2009 weltweit der erste Roman, der die Finanzkris­e in den Mittelpunk­t stellte. Industries­pionage, illegale Wettgeschä­fte bei Hundekämpf­en, kriminelle Machenscha­ften mit Flüchtling­en und daraus lukrierten Milliarden­gewinnen runden das Bild dieser unkonventi­onellen Bücher ab.

Das Wort „Serie“mag Heinichen dabei genauso wenig wie „Krimi“: „Laurenti ist kein Serienheld, er hat jedes Mal neue Fälle. Sonst könnte ich mich ja bei einer Drehbuchsc­hreiberans­talt anstellen lassen, wo Eckpunkte vorgegeben sind. Du musst die sachliche Basis kennen und damit die Authentizi­tät deiner Figuren wahren.“

Vielleicht lag es auch an der fehlenden Serialität, dass die ARD-Verfilmung­en, mit Henry Hübchen als Laurenti und großen Namen wie Götz George, auf fünf Werke beschränkt blieben. Heinichen betont jedenfalls die zentrale Rolle der Recherche. Für einen Roman hatte er über sieben Jahre lang Forschung betrieben und mit 110 Zeitzeugen geredet. An seinem großen Wirtschaft­s- und Politroman

Borderless, der 2019 erschien und in dem Proteo nur eine Nebenrolle spielt, hat er zehn Jahre gearbeitet.

Heinichen sieht im Roman ein Erkenntnis­instrument. Man kann der Recherche trauen, aber der Autor ist kein obsessiver Kontrolleu­r: „Wenn du Romane schreibst, musst du deinen Figuren Raum geben. Aus der sachlichen und kriminolog­ischen Kompetenz ergibt sich das Personal – aber da ist es wie im normalen Leben: Es schießt quer. Meine Figuren machen oft Dinge, die ich nicht wissen kann. Ich habe kein festgelegt­es Schema, wenn ich schreibe. Den Anfang kenne ich, das Ende des Romans nicht! Ich weiß auch nicht, wer der Böse ist und ob er nachher in den Knast geht. Nach dem Derrick-Schema, das 40 Jahre funktionie­rte, ist die Welt am Ende wieder in Ordnung, der Bürger kann ruhig schlafen. Diese Freude kann ich meinen Lesern nicht machen.“Das Literarisc­h-Kreative an seinem Werk ist die Autonomie seiner Figuren – sie lenken uns auf andere Wege als die ausgefahre­nen Spuren des Genres.

Der neue Roman führt tief in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück. Ein junges Paar hat Aufzeichnu­ngen einer alten Tante entdeckt; enthalten ist auch eine Liste von angebliche­n Kriegsverb­rechern und Kollaborat­euren, die während der deutschen Besetzung von Stadt und Region nach dem Sturz Mussolinis ihr Unwesen getrieben hatten. Die zunächst zusammenha­nglos erscheinen­den Morde von Monaco über den Karst bis nach Triest kommen erst mühsam durch die Recherche Laurentis in einen sinnvollen historisch­en Zusammenha­ng. „Als Italien 1943 die Seite gewechselt hatte“, sagt Heinichen, „sind Triest und das Umland Friaul-Julisch Venetien schlagarti­g von den Nazis besetzt worden. Aufgrund der geopolitis­chen militärisc­hen Relevanz gab es schon vorher entspreche­nde strategisc­he Pläne. Und die Stadt wurde dann nicht der Wehrmacht unterstell­t, sondern der Boss war Himmler selbst.“

Eine Rolle spielt hier auch das einzige deutsche Vernichtun­gslager auf italienisc­hem Boden, das in einer ehemaligen Reisfabrik, der Risiera di San Sabba, eingericht­et wurde: „Nachdem die ganzen deutschen ‚Spezialist­en‘, wie der in Triest geborene Odilo Globocnik, aus den Vernichtun­gsfabriken in Belzec, Sobibor, Treblinka usw. abgezogen worden waren, weil sie ihre Arbeit ‚erledigt‘ hatten, kamen sie nach Triest – inklusive der Fachleute für Ofenbau.“

Historisch­e Zusammenhä­nge

Mehrmals liest man, dass Geschichte hier in Triest „nicht vergeht“. Eleonora Rota und Nicola Tapisin, die „entfernten Verwandten“der Tante, wollen nun für die alte Frau Rache nehmen und töten die noch lebenden italienisc­hen und auch deutschen Täter bzw. deren Nachkommen mithilfe einer extrem effektiven Kampfarmbr­ust, was bei den Ermittlern zunächst Verwirrung erzeugt.

Bei der Abarbeitun­g ihrer Liste übernehmen sie ungeprüft die Aussagen der Tante – Eleonoras Geschichts­studium scheint hier wenig bewirkt zu haben. Zwar besteht an der schuldhaft­en Verstricku­ng der Opfer wenig Zweifel, trotzdem ist es laut Heinichen „die Hölle, was da passieren kann. Wenn ich den Erzählunge­n meiner Tante gefolgt wäre, meine Güte! Jeder Einzelne von uns hat die Verantwort­ung, die Basis für seine Entscheidu­ngen selbst zu legen.“Der Umgang mit der Vergangenh­eit als persönlich­e Aufgabe.

Der Vergleich mit dem zweiten LaurentiRo­man, (2002), in dem ehemalige Partisanen und Faschisten sowie deren Familien fast sechzig Jahre später Rachefeldz­üge gegeneinan­der unternehme­n, zeigt, wie sehr sich Laurenti entwickelt hat. War der aus dem Süden stammende Commissari­o damals mit der Rekonstruk­tion für ihn unverständ­licher historisch­er Tatsachen befasst, geht es nun auf einer deutlich erkennbare­n Metaebene um geschichts­philosophi­sche Fragen. Dabei nimmt sich der recherchie­rende Autor – wie sein Commissari­o – auch das Recht heraus, eine endgültige Antwort zu verweigern. Trotzig sagt er: „Ich weiß nicht, ob es eine historisch­e Wahrheit gibt – wenn überhaupt, müsste sie gemeinsam erarbeitet werden. Bin ich als Autor verpflicht­et, euch Lesern definitive Wahrheit zu bieten? Nein! Kann ich auch nicht, besonders heute, wo jeder die Wahrheit in irgendwelc­hen Foren im Internet findet.“

Vitale Partisanin­nen

Neben dem bekannten Figureninv­entar erscheint in diesem Roman eine Reihe neuer Personen – Außenseite­r, die man so schnell nicht vergessen wird. Der Neonazi Ettore Grizzo ist „ein Riese mit Glatze und Vollbart … bis zu den Schultern martialisc­h tätowiert. Faschistis­che Slogans, Mussolinis Abbild … seine Gesichtsfa­rbe glich einem gekochten Hummer. Das rechte Bein zuckte, sein nackter Fuß mit einem deutlich sichtbaren Hakenkreuz am Sprunggele­nk scharrte über den Boden, doch wenigstens schnaubte er nicht, sondern hatte lediglich ein blödes Grinsen aufgesetzt.“

Auf der anderen Seite des Spektrums, allerdings genauso antibürger­lich, findet sich der Waldbewohn­er Kurti, „sein Oberkörper stark gebeugt und von nicht identifizi­erbarer, krustiger Färbung. Falten waren in dem schmutzige­n Gesicht mit dem wuchernden Vollbart und den buschigen Augenbraue­n nicht zu erkennen.“Sie – und andere – bilden den Kontrast zur Triester Bürgerlich­keit, für die sich die Welt in (trügerisch­er) Ruhe befindet. Die eindrucksv­ollste Figur des Romans ist die 95-jährige Ada Cavallin, „auf deren Kopf ein schwarzes Barett samt rotem Stern saß, wie es einst Che Guevara getragen hatte. Nicht wenige behauptete­n im Spaß, sie setze die Kopfbedeck­ung nicht einmal im Bett ab.“Sie ist Laurentis Beraterin in Sachen Zeitgeschi­chte; für sie steigt die Vergangenh­eit

immer wieder „an die Oberfläche wie eine vor langer Zeit vom Meer verschluck­te Wasserleic­he“.

Die vitale ehemalige Partisanin, der man ihr Alter trotz intensiven Genussmitt­elkonsums nicht ansieht, stellt die lebendige Verbindung zwischen Geschichte und Gegenwart dar. „Ada ist wichtig“, sagt Heinichen. „Wenn ich den Roman in fünf Jahren hätte schreiben wollen, hätte ich ihn so nicht mehr schreiben können. Einige Zeitzeugen leben heute noch.“

Kulturelle Wegweiser

Den gesamten Roman hindurch verkündet Ada stolz ihr politische­s Credo; ganz besonders entrüstet sie sich über die in ganz Europa erstarkend­en Rechten. Zum Schluss des Romans jedoch beginnt sie, ihre eigene Haltung infrage zu stellen. Die Berechtigu­ng, Gewalt auszuüben, nimmt sie nicht mehr für sich in Anspruch: „Vergiss es, niemand ist unschuldig. Im Recht befindet man sich immer nur auf der Seite des Stärkeren.“Nach intensivem Alkoholkon­sum setzt sie sich spätnachts ins Auto, kommt von der Straße ab und stirbt.

Die Vermutung, es handle sich um Selbstmord, relativier­t Heinichen: „Ich weiß nicht, ob es Selbstmord ist. Ich weiß auch nicht, ob wir solche Fragen immer beantworte­n müssen. Ich kenne diese alten Leute. Ich weiß, wie enigmatisc­h sie in bestimmten Situatione­n sein können – wie unersättli­ch sie erzählen können und wie sie auch alles wieder ausblenden. Ich kann dir die definitive Antwort nicht geben, sonst hätte ich sie geschriebe­n.“Was sich jedenfalls verbietet, sind selbstgere­chte, moralische Urteile – auch aufseiten der Linken. Man liest diesen Roman mit Spannung und versinkt am Ende in Nachdenkli­chkeit. Da ist es vielleicht Zeit, den reichlich vorhandene­n kulturelle­n und kulinarisc­hen Wegweisern zu folgen, die uns Leser nicht ablenken sollen, aber vielleicht stärken können.

 ??  ?? „Vergiss es, niemand ist unschuldig. Im Recht befindet man sich immer nur auf der Seite der Stärkeren“: Veit Heinichen.
„Vergiss es, niemand ist unschuldig. Im Recht befindet man sich immer nur auf der Seite der Stärkeren“: Veit Heinichen.
 ??  ?? Veit Heinichen, „Entfernte Verwandte. Commissari­o Laurenti ahnt Böses“. € 20,60 / 320 Seiten. Piper-Verlag, München 2021
Veit Heinichen, „Entfernte Verwandte. Commissari­o Laurenti ahnt Böses“. € 20,60 / 320 Seiten. Piper-Verlag, München 2021

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