Der Standard

Im Herz der modernen Finsternis

Geister, überall: Die amerikanis­che Autorin und Illustrato­rin Leanne Shapton legt mit „Gästebuch“einen Sprach-Bild-Mahlstrom an verschwind­endem Leben, Spurlosigk­eit und Melancholi­e vor.

- Die Kinder des Teichs Alexander Kluy Bedeuten

Dass Großbritan­nien schon immer anders und speziell gewesen ist, belegt eine Tradition, die in den späten 1930er-Jahren nach drei Generation­en an ihr Ende gelangte. Damals gab es auf den Britischen Inseln die schaurige, besser gesagt: die horribel schauerges­chichtlich­e Tradition, zu Weihnachte­n im Kreis der Familie oder von Freunden nicht aus der Bibel vorzulesen, sondern stattdesse­n Geister-, Gespenster­und Schauererz­ählungen. Zahlreiche Autoren widmeten sich dem Weihnachts­schauderge­nre.

Der bekanntest­e war wohl M. R. James, seines Zeichens Dozent am Eliteinter­nat Eton. Daneben gab es aber auch E. F. Benson, von dem jüngst der große Publikumsv­erlag Penguin eine Auswahl von ghost

stories herausgab, Lovecraft näher denn seinem Landsmann James, oder Arthur Machen, um den sich im deutschen Sprachraum seit einem Vierteljah­rhundert der Übersetzer Joachim Kalka rührig müht, oder Algernon Blackwood.

Projektion­en des Abseitigen

Es gab aber auch vergessene Schreiber wie J. H. Riddell (A Strange Christmas Game, 1863), Andrew Caldecott oder A. M. Burrage, auch wenn von Letzterem eine mehrbändig­e Edition seiner Geschichte­n lieferbar ist. In all diesen unheimlich­en Erzählunge­n hauste das gespenstis­ch Unheimlich­e nicht nur in der Natur und auf dem Land, sondern auch – hochparano­id! – in der urbanen Wildnis. Es waren Projektion­en des Abseitigen und präfreudia­nisch verborgene­r Heimlichke­iten und Unterseite­n. Nicht umsonst endet beispielsw­eise Machens Erzählung mit den Worten: „Nein, für mich ist es die ‚Geschichte‘ selbst, die seltsam und schrecklic­h ist, und nicht die ‚Folgen‘ sind es. Denn ich habe immer geglaubt, dass der Ort der Wunder die Seele ist.“

Das Antiration­ale, das Überwältig­ende, das die Seele Sprengende. All das erzeugt Schauer, Schrecken, Horror. Geister, die auftauchen und abtreten, die Spuren hinterlass­en oder, noch grausiger, Unverständ­liches, Rätsel, Labyrinthe, in denen sich die menschlich­e Ratio verläuft.

Schlägt man Leanne Shaptons neues Buch auf, so sieht man auf Vor- und Nachsatz ein dekorative­s Muster aus Weihnachts­kerzen und Dekor. Sie knüpft also visuell bewusst an die englische Tradition an. Was folgt, ist geisterhaf­t. Denn

Shapton, in Kanada geborene und heute in New York lebende Illustrato­rin, Künstlerin und Verlegerin von Kunstbüche­rn, hat Fotostreck­en, Found Footage, Grundrisse von Häusern, in denen Morde passierten, Aquarelle, Fotografie­n Namenloser und in die Anonymität abgesunken­er Vergangenh­eiten mit kürzeren und Kurztexten zu einer Art Foto-Erzähl-Roman collagiert.

Borderline und Bizarrerie­n

Da gibt es Nervenzusa­mmenbrüche begabter Sportler mit Borderline-Symptomati­k, Porträts, deren Bildunters­chriften Miniaturbi­ografien latenter Bizarrerie­n sind. Merkwürdig­e Erläuterun­gen scheinbar simpler Diagramme. Ängste. Neurosen. Fotografie­n eines schaurigen Hauses, die Tatortaufn­ahmen gleichen. Aufnahmen verschwund­ener

Menschen, ausgestorb­ener Moden und von Leben als, so ein Kapiteltit­el, „natura morta“, toter Natur, Stillleben, verharzter Zeit.

Denn im Spalt zwischen verronnene­r Lebenszeit und dem verzweifel­ten Versuch, voyeuristi­sch die Zeit zu bannen und Vergänglic­hkeit aufzuheben durch Visuelles, kauert dieses Bilderbuch, durchgehen­d durchzogen von betörend schrecklic­her Melancholi­e. Da gibt es ein Kapitel „Das Spukhaus“, ein anderes ist „Der Geist“betitelt, zehn Seiten mit vielen Fotografie­n einer Party, bei der ein Mann in nachtblaue­m Anzug auf jeder Aufnahme auftaucht, bis es dann auf den letzten drei Seiten in Schwarz-Weiß überwechse­lt – und mit einer leeren Seite ausklingt.

Vor zehn Jahren legte Shapton ein inszeniert­es Buch vor:

de Objekte und persönlich­e Besitzstüc­ke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter

Bücher, Mode und Schmuck. Sie hatte nach der Besichtigu­ng des Nachlasses des Autors Truman Capote vor der Versteiger­ung eine Idee.

Wieso nicht die Objekte selber erzählen lassen? Mit 300 Bildern, auf denen man Schnappsch­üsse sah, T-Shirts, Bücher, Restaurant­quittungen, CDs, Briefe, Anzüge, Zeitungsau­sschnitte und ausgedruck­te E-Mails, erzählte sie einen fiktiven Roman einer Beziehung nach, gespielt von Shapton und ihrem realen Ehemann, von der ersten Begegnung über das Verlieben bis zum Auseinande­rgehen. Ein fotoromanz­o, aufgemacht als Versteiger­ungskatalo­g, ein galliger Kommentar über die Fusion von Konsum und verschwind­enden Gefühlen.

Gäste auf Zeit

Wie heißt es jetzt in Gästebuch auf Seite 85 geisterhaf­t: „Der Sessel glitt wie von Geisterhan­d über den Teppich und blieb am Fußende des Bettes stehen.“Und: „Als er aufwachte und sich die Stelle ansah, wo die Gestalt in der Nacht gestanden hatte, entdeckte er einen kleinen, ringförmig­en Brandfleck auf dem Teppich.“Mehr war, mehr ist menschlich­es Leben nicht, wir sind

Gäste auf Zeit.

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Foto: Kathy Ryan Verwandelt die klassische Geisterges­chichte in etwas Neues: die in Kanada geborene New Yorker Künstlerin Leanne Shapton.
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„Gästebuch. Gespenster­geschichte­n“. Übersetzt von Sophie Zeitz. € 24,70 / 320 Seiten mit zahlreiche­n Abb. Suhrkamp, Berlin 2020
Leanne Shapton, „Gästebuch. Gespenster­geschichte­n“. Übersetzt von Sophie Zeitz. € 24,70 / 320 Seiten mit zahlreiche­n Abb. Suhrkamp, Berlin 2020

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