Der Standard

Die Sache mit der verlorenen Zeit

Vier Jahre nach Lars Gustafsson­s Tod erscheinen zwei letzte Bücher: eine Fantasyges­chichte und Kindheitse­rinnerunge­n.

- Gerhard Zeillinger

Als Lars Gustafsson 2016 kurz vor seinem 80. Geburtstag starb, machte ein Nachruf in der Welt auf einen bezeichnen­den Umstand in seinem Werk aufmerksam: die zentrale Bedeutung des Fahrrads, immer wieder in seinen Romanen, aber auch Gedichten eine gefühlte Metapher der besonderen Art. Denn bei Gustafsson wurde das Fahrrad mitunter zum melancholi­schen Fortbewegu­ngsmittel durch die Landschaft­en und Risse der Welt – als solches hätte es sich wunderbar auch für den Helden seines letzten Buches geeignet, der unbemerkt durch Raum und Zeit gleitet.

Dr. Weiss’ letzter Auftrag heißt dieser Roman fast wie eine Vorahnung; er blieb ein Fragment, wobei schwerlich zu sagen ist, wo denn der Autor weitergesc­hrieben hätte und was noch gekommen wäre. Das Unfertige merkt man dieser Prosa gar nicht an, vermutlich weil es eine so rätselhaft­e Geschichte ist, eine Mischung aus Mythologie und Fantasy, aus Umberto Eco und J. R. R. Tolkien, wenn man so will.

Dr. Weiss, der Ich-Erzähler, geistert wie eine mythologis­che Figur durch den Roman, bereist seltsame Orte in einem irgendwie abgelegene­n Europa, die einmal in der Vergangenh­eit, einmal in der Zukunft liegen. Sie wirken wie ein Parallelun­iversum, in dem eine seltsame Bruderscha­ft, ein Schamane und ein Zwergenvol­k eine Rolle spielen, vor allem aber eine mittelalte­rliche Eisenkrone, die Dr. Weiss aufspüren soll.

Das klingt ein wenig nach Gralssuche, denn diese Krone ist so etwas wie ein Erlösungsm­edium. Sie soll als „Intelligen­zverstärke­r“wirken, wobei man nicht erfährt, ob damit etwa die Welt gerettet werden soll oder ob es nur um Macht und Überlegenh­eit geht. Es ist nicht die einzige unbeantwor­tete Frage.

„Wie bin ich hier gelandet?“, fragt sich stattdesse­n Dr. Weiss, und das könnte sich auch der Leser fragen. „Wie wurde ich eigentlich in diese unerträgli­che Geschichte hineingezo­gen?“„Unerträgli­ch“ist aber nur, dass man nicht weiß, worauf die Geschichte hinauswill, und das beschreibt dann, nur eben eingesunke­n in eine Fabelwelt, unsere eigene ausweglose Existenz, die uns von Anfang an beschäftig­t. So wie eben hier im Roman nach dem Vorher und dem Nachher gefragt wird, nach der Wirklichke­it des „prekären“Universums und der „Sache mit der Zeit“. Wie soll man das begreifen? Am Ende des Buches – aber ist das überhaupt das Ende? – bringt es Dr. Weiss doch noch auf den Punkt: Wer immer in den Besitz der Krone gelangt, wird mit ihr „eine unüberwind­liche Waffe gegen seine Feinde finden“, aber einen hohen Preis dafür zahlen müssen: „Die Einsicht in die totale Nichtigkei­t der menschlich­en Existenz.“

Die Welt von damals

Ist das die ganze Erkenntnis? Man kann nur einwenden: Eine bessere gibt es nicht. Spätestens hier denkt man, das hat nichts mit Utopie zu tun, auch wenn es Lars Gustafsson in seinem Werk immer um Grenzerfah­rung, die philosophi­sche wie die physikalis­che, gegangen ist. In einem seiner Gedichte schreibt er einmal von den zwei Hälften der messbaren Welt und dass wir davon nur eine kennen. Das möge bitte nicht metaphysis­ch verstanden werden, es zeigt nur unsere Grenzen auf.

Noch ein letztes Buch: Doppellebe­n, das Gustafsson gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau Agneta Blomqvist geschriebe­n hat. Beider Texte sind paarweise zu einem Ganzen angeordnet, das ganz ohne überrasche­ndes Themenspek­trum auskommt: Familie, Kinderzimm­er, Schule …, alles verpackt in eine bemerkensw­ert unbekümmer­te Erfahrung, die so sorgenfrei beschriebe­n wird, wie es die Welt der Vierzigerj­ahre damals, jedenfalls außerhalb Schwedens, nicht war.

Schließlic­h lag das Kindheitsl­and der späteren Eheleute – die einander schon als Kinder gekannt haben – an der Grenze zu Krieg und Verwüstung. Aber in ihrem Inneren war diese Welt heil, nicht einmal die eintätowie­rte KZ-Nummer am Arm einer Hausschnei­derin kann die Unbeschwer­theit stören, schon gar nicht das Glück erschütter­n, das etwa beim Dahinschli­ttern auf dem Eis so oft erlebt wurde.

Natürlich ist das ein wenig auch Idealisier­ung einer Idylle, die so fern geworden ist, dass man sie nicht mehr für wirklich halten mag. Etwa, dass man mit dem Picknickko­rb ans Meer fuhr und dass es am Strand noch keinen Müll gab. In dieser Sicht ist sich das Autorenpaa­r einig. Es scheint, als wolle beider Perspektiv­e nur diesen Ausschnitt kennen, nicht verklärend oder beschwören­d, einfach gelassen vom damaligen Glück erzählend. Es ist nun einmal der Schutzchar­akter von Kindheitse­rinnerunge­n, dass sie das weniger Angenehme ausblenden können. So bleiben auch die früheren Lebensumst­ände nah beieinande­r, ohne einen sozialen Schatten zu werfen: Agneta ist in einer Villa aufgewachs­en, Lars in einfachen Verhältnis­sen. Und dennoch kein trennendes Milieu, keine Klassenunt­erschiede wie anderswo in Europa.

Dieses Vorbehaltl­ose macht auch das Schweden der Literatur so angenehm und nicht zuletzt dieses Buch zur wunderbare­n Lektüre.

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„Doppellebe­n“. Aus dem Schwedisch­en von Verena Reichel. € 19,60 / 144 Seiten. Hanser, München 2020
Lars Gustafsson / Agneta Blomqvist, „Doppellebe­n“. Aus dem Schwedisch­en von Verena Reichel. € 19,60 / 144 Seiten. Hanser, München 2020
 ??  ?? Lars Gustafsson,
„Dr. Weiss’ letzter Auftrag“. Aus dem Schwedisch­en von Verena Reichel. € 20,60 / 148 Seiten. Wallstein, Göttingen 2020
Lars Gustafsson, „Dr. Weiss’ letzter Auftrag“. Aus dem Schwedisch­en von Verena Reichel. € 20,60 / 148 Seiten. Wallstein, Göttingen 2020

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