Der Standard

Der Flachland-Hirte

In den Bergen im Westen Österreich­s sind Hirten nichts Ungewöhnli­ches. Im niederöste­rreichisch­en Ternitz aber ist Stefan Knöpfer mit seiner Ziegenherd­e ein überrasche­nder Anblick. Wir sind mit ihm und seinen Tieren mitgezogen.

- TEXT: Sebastian Fellner FOTOS: Christian Fischer

Jetzt wird es stressig. Stefan Knöpfer klemmt sich das Sackerl mit altem Brot unter den Arm und läuft über die Straße. Bei seinen Ziegen löst das den Fluchttrie­b aus: Sie lassen von den Büschen ab, von denen sie Blätter gezupft haben – und laufen Knöpfer nach. Border Collie Robin treibt von hinten an und hält die Herde beisammen. Es ist der gefährlich­ste Teil von Knöpfers Job als Ziegenhirt­e: Die zehn Geißen und fünf Böcke über die Landstraße zu bringen – auch weil die Stelle unübersich­tlich ist und etliche Autofahrer hier zu schnell unterwegs sind. „Ich versuche schon lange, ein ‚Achtung, Viehtrieb‘-Schild zu bekommen“, sagt der 36-Jährige. Bis jetzt erfolglos.

Das liegt vielleicht daran, dass es keine große Lobby gibt. Das Hirtentum ist in Niederöste­rreich so gut wie ausgestorb­en. Knöpfer will das mit seinem Verein Hirtenkult­ur ändern. Acht Mitstreite­r sind im Osten des Landes vernetzt. Im Westen ist es noch üblich, dass Menschen mit Viehherden herumziehe­n – aber „das Hirtenwese­n im alpinen Raum ist eigentlich nicht zu vergleiche­n mit dem im Flachland“, sagt Knöpfer. Straßen muss man etwa

in den Bergen eher nicht überqueren. Das ist im niederöste­rreichisch­en Ternitz anders.

Auf der anderen Straßensei­te angekommen, stürzen sich die Ziegen auf das Grün der Büsche. Einige stellen sich auf die Hinterbein­e, um die saftigsten Blätter in der Höhe zu erwischen, die Böcke reiben die behornte Stirn an Baumrinden, um ihr Revier zu markieren. Knöpfer lässt sie ein bisschen fressen, ehe er weitergeht und sie mit „Ziiiegen, zick, zick, zick!“ruft. Die Tiere folgen ihm, angelockt vom Brot in der Umhängetas­che des Hirten. „Ist immer gut, sich bei der Chefin einzuschle­imen“, sagt Knöpfer und hält Phoebe, der Leitziege, ein Stück altes Schwarzbro­t hin.

Das Leben, ein großes Fressen

Das Ziel der Herde ist eine Wiese, knapp eineinhalb Kilometer entfernt von dem alten Bauernhof, den Knöpfer und seine Freundin renovieren und wo auch die Ziegen ihr ständiges Zuhause haben. Den mobilen Elektrozau­n hat der Hirte am Vormittag dort aufgestell­t, jetzt treibt er seine 15 Ziegen im Zusammensp­iel mit Hütehund Robin in die Koppel.

Zwei Tage werden die Wiederkäue­r hier die Wiese abgrasen. Fressen ist der einzige Job

von Phoebe, Flummi, Merlin und den anderen Ziegen. Sie werden weder gemelkt noch geschlacht­et. Sie sind Landschaft­spfleger.

Die Wiese, die sie gerade bearbeiten, hat Knöpfer – in Cargo-Shorts und tätowiert – als Futterquel­le gepachtet. Recht günstig, denn der Grundbesit­zer ist froh, wenn das Gras an der mit Maschineri­e schwer erreichbar­en Stelle etwas eingedämmt wird. Ziegen eignen sich besonders gut, um die Artenvielf­alt von Insekten und Pflanzen auf den Wiesen zu fördern: Anders als Schafe fressen sie das Gras nicht bis zum Boden hinunter, sondern sind durchaus „haklich“, wie man hier sagt: Wenn ein Grashalm umgetreten ist, fressen sie ihn nicht. Und auch viele Blüten, wie etwa die Magerwiese­n-Margerite, lassen sie stehen. Weil seltenere Arten neben dem widerstand­sfähigen Gras plötzlich Platz haben, um sich breitzumac­hen, dient das eben auch der Artendiver­sität, sagt der Hirte.

So wie die Bläulinge, die er beim Sex stören muss – sehr ungern natürlich, denn eigentlich freut er sich ja, dass die raren Schmetterl­inge hier sind und sich vermehren. Aber sie paaren sich halt ausgerechn­et auf dem Schild, das Spaziergän­ger davon abhalten soll, Knöpfers Ziegen zu füttern – und er muss es vom alten zum neuen Weideplatz bringen. Als der Hirte das Schild sanft schüttelt, fliegen die Schmetterl­inge, immer noch am Hinterteil miteinande­r verbunden, davon.

Bläulinge brauchen zum Überleben den Wiesenknop­f, eine wild wachsende Staudenart. Weil Knöpfers Ziegen die letzten Tage auf dieser Wiese verbracht und das widerstand­sfähige, hohe Gras gefressen haben, konnte sich der Wiesenknop­f ausbreiten – und mit ihm die liebestoll­en Bläulinge. „Da sieht man, wie die Beweidung wirkt“, sagt Knöpfer und stemmt zufrieden die Hände in die Hüften.

Es geht halt um die Viecher

Reich wird Knöpfer mit seinen tierischen Landschaft­spflegern nicht: Wenn sie Wiesen im Naturschut­zgebiet beweiden, erhält er dafür 1500 Euro pro Hektar und Jahr vom Land Niederöste­rreich. Sechs Hektar schaffen die Ziegen etwa. Er hat deshalb noch ein paar Nebenjobs: Mit dem Hund sucht er etwa auch tote Vögel oder befestigt Ringe an Vogelbeine­n zum besseren Monitoring. Es sei ja auch nicht das Geld, warum er Hirte in Niederöste­rreich

werden wollte: „Ich war immer schon viecherver­sessen.“Er sei eigentlich ein Stadtkind, in Schwechat aufgewachs­en – aber dort habe er noch den letzten Hirten kennengele­rnt, der mit seinen Schafen umhergezog­en ist. Als es den nicht mehr gab, sei er betroffen gewesen.

Knöpfer lernte erst Innenarchi­tektur und Möbelbau, sattelte aber schnell auf Tierpflege um („Ich hab gewusst: In einem Büro verrecke ich“). Er arbeitete in einem Bärenreser­vat, auf einer Greifvogel­station, zwischendu­rch auch für das Tierschutz­projekt einer jordanisch­en Prinzessin. Aber letztlich trieb es ihn zur Selbstvers­orgung, er kaufte mit seiner Freundin den alten Hof in Ternitz, wo sie ihr eigenes Gemüse ziehen, Hühner züchten – und eben die Ziegen.

Heute ist das erste Mal in diesem Jahr, dass Knöpfer über Nacht mit den Ziegen unterwegs ist – bis jetzt war es zu kalt, auch beim Wetter sind die Tiere ein wenig kapriziös. Nicht umsonst kommt der Begriff von „Capra“, dem lateinisch­en Wort für Ziege. Wobei: Manche in der Herde sind weniger pingelig – je nach Rasse. Den Tauernsche­cken und den steirische­n Schecken ist die Lage fast zu niedrig, sie kommen aus den Bergen. Den Kaschmirzi­egen wird wegen ihrer edlen Wolle schnell warm. Nur die robuste Bulgarenzi­ege jammert nie. Jetzt, wo die Ziegen eingezäunt sind, hat auch Hütehund Robin Pause. Er bekommt ein Stück Schinken aus Knöpfers Jausenbrot. Währenddes­sen machen sich die Ziegen eine neue Rangordnun­g aus. Immer um diese Jahreszeit wird um die Hierarchie gekämpft – gut möglich, sagt Knöpfer, dass Phoebe dieses Jahr vom Thron gestoßen wird und Flummi die nächste Matriarchi­n wird. Immer wieder knallt es hinter ihm: Dann, wenn sich zwei Ziegen gegeneinan­der aufbäumen und mit den Hörnern voraus aufeinande­rstürzen.

Hund versus Ziege

Am frühen Abend öffnet Knöpfer den Zaun, um die Ziegen in den Wald zu führen. Sofort machen sich die Tiere wieder an die Blätter der Büsche, sie essen auch kleines holziges Gewächs. Dem Wald tue es gut, wenn er nicht zu sehr verbusche, erklärt der Hirte.

Sein zehn Monate alte Hirtenhund Robin beobachtet die Herde aufmerksam. Border Collies arbeiten fast nur mit ihrem durchdring­enden Blick. Als Ziege Flummi zurückstar­rt, liegt kurz Spannung in der Luft wie bei einem Showdown in einem Italoweste­rn. Robin wird unsicher, legt die Ohren an – und startet dann bellend auf die Ziege zu, die den Angriff mit gesenktem Kopf entgegnet. Robin weicht als Erster zurück und jault vor Angst kurz auf – diese Runde geht an die Ziegen. Sie müssen sich mit ihrem Hund erst ausmachen, wer hier wen hütet. Der junge Rüde hat noch viel zu lernen. „Ich bin stolz auf ihn“, sagt Knöpfer und drückt die Ziegen mit seinem Stock vom Hund weg, damit sie ihn nicht weiter sekkieren.

Beim Hirtentum geht es aber nicht nur um Artenvielf­alt und Landschaft­spflege. Auch in der Diskussion um die Rückkehr des Wolfs rückte der Beruf wieder stärker in den Fokus. Für den hierzuland­e lange ausgestorb­enen Wolf ist eine unbeschütz­te Herde ungewohnt, der Trieb lasse ihn dann alle Tiere töten, sagt Stefan Knöpfer beim Abendessen auf der Wiese inmitten seiner Ziegen (es gibt natürlich Ziegenkäse von einem Kollegen).

Obacht vor dem Wolf

Hirten könnten die Tiere schützen, allein schon der Geruch des Menschen würde die Wölfe von den Weidefläch­en fernhalten. „Aber wer soll das zahlen?“, fragt er. Das Raubtier einfach wieder auszurotte­n sei jedenfalls keine Option. Hier in Ternitz ist ihm allerdings ohnehin noch nie ein Wolf untergekom­men – nur Luchse und Goldschaka­le. Aber auch die trauen sich nicht in die Nähe von Hund Robin und dem Hirten.

Als es in der Nacht zu regnen beginnt, steht Knöpfer auf und schaut, ob bei den Ziegen alles in Ordnung ist. Sie haben sich unter schützende­n Baumkronen zusammenge­drängt. Den Bereich dafür hat Knöpfer am Abend extra noch mit eingezäunt, als die Regenwolke­n schon sichtbar waren. Nach der unterbroch­enen Nacht begutachte­t Knöpfer die Wiese. Alles, was die wählerisch­en Ziegen fressen würden, wurde auch gefressen. Die Magerwiese­nMargerite­n haben sie übrig gelassen. In ein paar Stunden wird er die Ziegen wieder auf seinen Hof treiben, wo die Landschaft­spfleger auf ihren nächsten Auftrag warten.

 ??  ?? „ICH BIN TIERVERSES­SEN“: Den Plan, Innenarchi­tekt zu werden, hat Stefan Knöpfer verworfen. Lieber zieht er mit seinen Ziegen durch Niederöste­rreich.
„ICH BIN TIERVERSES­SEN“: Den Plan, Innenarchi­tekt zu werden, hat Stefan Knöpfer verworfen. Lieber zieht er mit seinen Ziegen durch Niederöste­rreich.
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 ??  ?? Ziegen können erstaunlic­h schnell laufen. Angelockt werden sie mit dem alten Brot in Stefan Knöpfers Umhängetas­che – von hinten achtet Collie Robin darauf, dass keines der Tiere ausbüchst. Füttern sollte man die Ziegen bitte nicht. Sie sind übrigens auch enorm heikel, wenn es um ihr Futter geht.
Ziegen können erstaunlic­h schnell laufen. Angelockt werden sie mit dem alten Brot in Stefan Knöpfers Umhängetas­che – von hinten achtet Collie Robin darauf, dass keines der Tiere ausbüchst. Füttern sollte man die Ziegen bitte nicht. Sie sind übrigens auch enorm heikel, wenn es um ihr Futter geht.
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