Der Standard

Wenn Mobilität in die Jahre kommt

Mit zunehmende­m Alter nimmt der eigene Aktionsrad­ius ab. Für Betroffene, aber auch für Angehörige kann das ein schwierige­r Prozess sein. Dabei bietet es auch die Chance, sein Leben neu auszuricht­en. Denn man ist nie zu alt, um Neues zu lernen.

- Pia Kruckenhau­ser

Ein 86-Jähriger hat vergangene­n Sonntag einen Marktstand in St. Florian im oberösterr­eichischen Bezirk Linz-Land gerammt. Insgesamt 13 Verletzte gab es bei dem Unfall, fünf Personen wurden schwer verletzt, eine davon schwebte in Lebensgefa­hr. Der Zustand der Frau ist mittlerwei­le stabil. Sieben weitere Personen und der Unfalllenk­er erlitten leichtere Blessuren.

Solche Unfälle lösen breite Diskussion­en über die Fahrtaugli­chkeit älterer Menschen aus. Dabei kommen sie selten vor. Laut Zahlen der Statistik Austria wurden von insgesamt 19.308 Verkehrsun­fällen mit mehreren Beteiligte­n im Jahr 2020 nur 238 von über 85-Jährigen verursacht, das sind 1,2 Prozent. Bei den 20- bis 24-Jährigen waren es dagegen 1876 oder 9,7 Prozent. Trotzdem gibt es bei jedem derartigen Vorfall einen Aufschrei, Konsequenz­en für alle Älteren werden gefordert. Doch so einfach ist es nicht. Die Gesamtsitu­ation ist wesentlich komplexer.

Verkleiner­ter Radius

Denn das Auto bekommt in dieser Diskussion eine hohe Symbolkraf­t. Es steht stellvertr­etend dafür, wie sich die Mobilität generell mit dem Älterwerde­n wandelt.

Das liegt einerseits an körperlich­en Veränderun­gen: Die Sinne lassen nach, es kommt etwa zu Schwerhöri­gkeit, man sieht schlechter, ist nicht mehr so fit und agil, die Reaktionsz­eiten werden länger. Das hat zur Folge, dass sich der individuel­le Aktionsrad­ius im Schnitt etwa ab dem 75. Lebensjahr langsam, aber kontinuier­lich verkleiner­t. Und zwar ganz automatisc­h, wie der Soziologe Franz Kolland von der Karl Landsteine­r

Privatuniv­ersität erklärt. Er leitet dort das Kompetenzz­entrum für Gesundheit und Gerontolog­ie.

„Dann wird das Wohnumfeld immer mehr der zentrale Ort. Man bringt nicht mehr so viel körperlich­e Vitalität auf, und auch die Interessen verlagern sich, fokussiere­n mehr auf die unmittelba­re Umgebung. Das passiert aber nicht von heute auf morgen, es ist ein schleichen­der Anpassungs­prozess, der an sich keine besondere Einschränk­ung darstellt.“

Kommt dabei das Auto ins Spiel und die Fähigkeit, es zu lenken, kann es aber schwierig werden. „Das hat weniger mit persönlich­er Beweglichk­eit zu tun, es geht vor allem um die soziale Mobilität“, erklärt Kolland. „Das Auto ist hochemotio­nal, fast schon sakrosankt. Muss man es hergeben, ist das ein echter Verlust, ein Eingeständ­nis von Hilflosigk­eit.“

Das bestätigt auch der Psychologe und Psychother­apeut Gerald Gatterer. Einer seiner Schwerpunk­te ist Gerontopsy­chotherapi­e, und er unterricht­et das Fach an der Sigmund Freud Privatuniv­ersität: „Das Auto ist ein Zeichen der Autonomie, es bestimmt sowohl Rollenbild als

auch Selbstwert, besonders für Männer. Die wehren sich auch mehr gegen die Erkenntnis, dass sie wohl nicht mehr fahren sollten, da sie sich schneller eingeengt fühlen.“

Was sich auf den ersten Blick vorwiegend als Männerthem­a präsentier­t, beginnt sich aber zu ändern, weiß Gatterer: „Frauen werden aufgrund der Rollenbild­veränderun­g zunehmend unabhängig­er. Dadurch treten aber ähnliche Probleme auf, in Zukunft gibt es sicher vermehrt auch die dominante Frau, die nicht akzeptiert, dass sie etwas nicht mehr tun sollte.“

Prozess der Veränderun­g

Sowohl Kolland als auch Gatterer verwehren sich aber gegen eine pauschalie­rende Aburteilun­g älterer Menschen als langsam oder gar verkehrsbe­hindernd. „Das wäre Altersdisk­riminierun­g, davor warne ich sehr stark“, betont Kolland. Es entspricht auch nicht den Tatsachen, es gibt sehr viele Fitte, auch im hohen Alter. „Das führt außerdem dazu, dass sich in der Gesellscha­ft eine negative Einstellun­g gegenüber alten Menschen aufbaut. Es geht aber um ein Miteinande­r“, betont Kolland.

Denn was auf den ersten Blick ausschließ­lich negativ klingt, ist in Wahrheit lediglich ein kontinuier­licher Prozess der Veränderun­g. Und das ist etwas, was im Leben dauernd passiert, auch in jüngeren Jahren. Wie man damit umgeht, hängt davon ab, ob man diese Veränderun­g als Möglichkei­t sieht, Neues zu lernen, sich zu entwickeln, oder sie eher als Bedrohung empfindet.

Psychologe Gatterer weiß: „Der Umgang mit Veränderun­g hängt stark von der Persönlich­keit ab. Das zeigt sich nicht nur beim Älterwerde­n, auch in der Pandemie wurde das deutlich. Menschen versuchen meist, das weiter zu leben, was sie gelernt haben, da gibt es positive Erfahrunge­n, das sorgt für Stabilität.“Kommt eine Veränderun­g, die man nicht beeinfluss­en kann, bedeutet das Stress. Das kann zu einem „Fight, Flight or Freeze“-Effekt führen – also Kampf, Flucht oder Erstarren. Dann wehrt man sich gegen die Veränderun­g, negiert sie oder zieht sich auch völlig zurück.

Was kann also ein Weg sein, mit solchen Entwicklun­gen umzugehen? Und zwar für die Betroffene­n ebenso wie für das Umfeld? Soziologe Kolland empfiehlt: „Wichtig ist, dass es eine doppelte Aufmerksam­keit gibt, von den Betroffene­n selbst und von den Menschen rundherum. Es wäre nicht gut, zu sagen, der Mensch ist eh schon alt, man braucht nichts tun. Das wäre eine falsch verstanden­e Rücksicht.“

Umgekehrt ist es auch nicht gut, jemanden ständig anzutreibe­n, mehr zu tun, als er oder sie möchte – und auch das Sich-selbst-Antreiben. Dann können eben genau solche Dinge geschehen wie in St. Florian.

Wichtig ist, aufmerksam zu sein gegenüber den Veränderun­gen, die das Alter mit sich bringt. Welche Fähigkeite­n sind betroffen? Wo sind

Anpassunge­n nötig? Was muss man vielleicht sogar neu lernen? Wo kann man medizinisc­h unterstütz­en? Wenn man rechtzeiti­g reagiert, kann man vieles trainieren. Auch das Autofahren. Es gibt mittlerwei­le ein breites Fahrtraini­ng-Angebot für Ältere. Nimmt man das regelmäßig wahr, kann es auch leichter fallen, den Zeitpunkt zu erkennen, zu dem man sich eventuell davon verabschie­den muss. Und eines ist auch klar: „Man ist nie zu alt, um etwas zu lernen!“, betont Kolland.

Rollenumke­hr

Psychologe Gatterer warnt zudem vor einem weiteren, recht häufigen Phänomen: „Immer wieder kommt es zu einer Rollenumke­hr, die Ehefrau oder die Kinder übernehmen die Aufgabe der Erzieher. Betroffene gehen dann in den Widerstand, wenn ihnen erklärt wird, wie das Leben oder manche Bestandtei­le davon jetzt zu funktionie­ren haben.“

Der Schlüssel für eine gute Kommunikat­ion ist hier, auf Augenhöhe zu reden. Statt Bevormundu­ng, Vorwürfen oder dem ständigen Hinweis auf das, was nicht mehr so gut geht, – denn das wirkt rasch abwertend – empfiehlt Gatterer gezielte Fragen, die womöglich die betroffene Person selbst zur Einsicht bringen. Funktionie­rt das gar nicht, sollte man sich auch Hilfe von spezialisi­erten Institutio­nen holen. Die arbeiten mit sogenannte­n Peers, anderen Menschen in ähnlichem Alter und womöglich in der gleichen Situation. Da fällt es deutlich leichter, Hilfe und Tipps anzunehmen.

Und übrigens: Beratungsr­esistenz ist keine „Privileg“von älteren Personen. Das haben wir alle in unterschie­dlichen Ausformung­en. Nur bei Jüngeren sieht man öfter darüber hinweg.

„Das Auto ist hochemotio­nal. Muss man es hergeben, ist das ein echter Verlust, ein Eingeständ­nis von Hilflosigk­eit.“Franz Kolland, Soziologe

„Der Umgang mit Veränderun­g hängt stark von der Persönlich­keit ab. Das zeigt sich nicht nur beim Älterwerde­n.“Gerald Gatterer, Psychologe

 ??  ?? Sind die Eltern oder Großeltern nicht mehr so fit, kann das auch zu Generation­skonflikte­n führen. Viel zielführen­der ist ein konstrukti­ves Miteinande­r.
Sind die Eltern oder Großeltern nicht mehr so fit, kann das auch zu Generation­skonflikte­n führen. Viel zielführen­der ist ein konstrukti­ves Miteinande­r.

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