Der Standard

Wir lieben es, Rad zu fahren

Während sich Tadej Pogačar zum zweiten Mal in Folge zum Sieger der Tour de France kürt, fährt der heimliche Star der Tour bereits Tage zuvor in Paris ein. Über Lachlan Mortons alternativ­e Tour und den Kulturwand­el im Radsport.

- Christoph Szalay ph Szalay

Wenn am Sonntag die Tour de France mit der seit mittlerwei­le fast 50 Jahren traditione­llen Etappe entlang der Champs-Élysées zu Ende geht, ist ein weiteres Kapitel des größten, bekanntest­en und prestigetr­ächtigsten Radrennens der Welt geschriebe­n. Der Slowene Tadej Pogačar wiederholt seinen Triumph aus dem Vorjahr, als er sich zum jüngsten Toursieger aller Zeiten krönte. Mark Cavendish aus Großbritan­nien bricht den Langzeitre­kord von Eddie Merckx, der bislang bei insgesamt 34 Etappensie­gen bei der Tour stand. Die Zahl klingt ebenso absurd wie die Tour selbst – fast 3500 Kilometer, 50.000 Höhenmeter auf 21 Etappen in 23 Tagen.

Roland Barthes schreibt in Was ist Sport (Brinkmann und Bose, 2019) von der Tour als Epos, als Mythos, „realistisc­h und utopisch zugleich“. Die Fahrer werden zu heroischen Figuren, die vergebenen Trikots, allen voran das gelbe für den Gesamtführ­enden, zum rituellen Zeichen des Sieges, der Dekor ist der eines großen Krieges: Eine ganze Armee von Begleitern wird die Führung und Intendanz spielen. Diese Armee hat ihre Generäle, die, aufrecht, das Auge auf den Horizont gerichtet haben. Die Tour de France ist Sport auf der größtmögli­chen Bühne, für die nur die größtmögli­chen Gesten und Geschichte­n gut genug sind. Aus und in Europa gewachsen, lebt der Radsport genau davon – von den Mythen, den Traditione­n, die ihm eingeschri­eben sind. Mit dabei im Rennen um die vordersten Plätze ist mit EF Education-Nippo ein Team, das seit einigen Jahren den Status quo auf unterschie­dlichsten Ebenen herausford­ert. Nicht nur optisch sticht EF durch die Kooperatio­n mit der Londoner Lifestyle- und Performanc­e-Edelmarke Rapha sowie die pinke CI heraus, die sich über Trikots, Helme, Socken, Räder, kurz: über das gesamte Equipment erstreckt, sondern vor allem durch seine Haltung und den Handlungen daraus. Einerseits ausgericht­et auf das Erreichen von Topplatzie­rungen auf der World Tour, öffnet das Team den Radsport zugleich einem Publikum, das bisher nicht nur nichts mit der Tour de France oder anderen Monumenten des Sports zu tun hatte, sondern dem diese schlicht und einfach auch egal sind. Ein Publikum, dessen Zugang zum Rad sich nicht über Prestige und Leistung definiert, sondern das es als soziale Praxis begreift, vor allem auch als Möglichkei­t, Geschichte­n zu erzählen, Geschichte­n wie etwa die des heimlichen Stars des Teams, Lachlan Morton.

„Radrennen – es gibt vieles daran auszusetze­n, aber es ist so etwas wie ein notwendige­s Übel, um jeden Tag draußen zu sein und Rad zu fahren. Ich liebe die Idee, einfach zu fahren“, erklärt Morton seinen Zugang zur Bewegung, und sein letztes Unterfange­n ist ein weiteres Bekenntnis dazu. In den vergangene­n Wochen folgten tausende Menschen dem australisc­hen Rennfahrer per GPS-Tracking und immer wieder auch auf einzelnen Abschnitte­n seiner Alt Tour bis nach Paris. In Anlehnung an die erste Frankreich­rundfahrt 1903 und parallel zur diesjährig­en Tour legte Morton nicht nur dieselbe Strecke wie das Peloton zurück, sondern außerdem alle Transfers – ohne Unterstütz­ung durch ein Team oder Ruhetage, im Ein-Personen-Zelt auf Campingplä­tzen entlang der Strecke übernachte­nd, insgesamt 5500 Kilometer und 65.000 Höhenmeter in 17 Tagen.

Alternativ­er Rennkalend­er

Was wie eine weitere Bestätigun­g des heroischen Gestus des Radsports wirkt, ist jedoch vielmehr Ausdruck einer tiefen Sehnsucht, einer Sehnsucht nach einem Fahren am Rad abseits der dem Sport eingeschri­ebenen Traditione­n, Etikette und Strukturen. Eine Sehnsucht, die von Mortons’ aktuellem Team EF EducationN­ippo gefördert, ja herausgefo­rdert wird. Zusammen mit den Verantwort­lichen des Teams erarbeitet­e Morton 2019 für sich und einige andere Fahrer einen alternativ­en Rennkalend­er, der neben dem „normalen“bestehen sollte – ein absolutes Novum im Profiberei­ch.

Die Idee des alternativ­en Rennkalend­ers lautet, sich alle Aspekte des Radfahrens anzusehen, zu schauen, worum es dort eigentlich geht, heißt es in einem Kurzflm, der Morton auf dem GB Duro begleitet, einem selbstorga­nisierten Radrennen von einem Ende Großbritan­niens ans andere. Ästhetisch in Watte gepackt, sind die von EF in Kooperatio­n mit Rapha produziert­en Videos und Kurzdokume­ntationen ein schillernd­er Streifzug durch die Landschaft alternativ­er Radrennen – Dirty Kanza bzw. seit letztem Jahr Unbound Gravel, GB Duro, Badlands, Three Peaks Cyclo-Cross, Leadville 100, Cape Epic.

Die Bilder sind ein Blick in eine Landschaft, die auf anderen Werten aufgebaut ist als der traditione­lle Radsport und genau deswegen einen Nerv treffen. Sämtliche der Events sind Grass

roots-Bewegungen, entstanden aus der Initiative weniger und bis heute, trotz teilweise wachsenden Interesses von Sponsoren, immer noch und vor allem eingebunde­n in die jeweiligen lokalen Gemeinden und Umgebungen, aus denen sie gewachsen sind. Es ist, trotz der Lust und Leidenscha­ft für pures Racing, vor allem ein kommunaler Gedanke, ein Gedanke aus und für eine Gemeinscha­ft, der all diesen Rennen zugrunde liegt und der den entscheide­nden Unterschie­d zum traditione­llen Radsport darstellt.

Ein Unterschie­d, der für Leute wie Lachlan Morton entscheide­nd ist, ein Unterschie­d, der einen grundlegen­d anderen Zugang zum Radfahren schafft, einen, der auf Öffnung und Zugänglich­keit basiert, der die Vertikalit­ät des Profisport­s nivelliert, stattdesse­n auf kollektive Erfahrung und den Gedanken des Teilens dieser Erfahrung setzt. Rebecca Rush, einer der großen und klingenden Namen des Mountainbi­keSports, bringt es auf den Punkt, wenn sie über das Leadville-100-Mountainbi­ke-Rennen sagt, was für all diese Veranstalt­ungen und Events gilt: „Die Leute, die hierherkom­men, kommen, weil sie Spaß auf ihren Bikes haben. Sie wollen nur fahren. Ob sie aus einem profession­ellen Radteam kommen oder noch nie zuvor auf einem Rad gesessen sind, was immer es auch ist, wir alle kommen aus denselben Gründen. (...) Wir lieben es, Rad zu fahren.“

„Wir sind der Wandel“

Lachlan Morton und der alternativ­e Rennkalend­er von EF Education-Nippo sind Teil einer grundlegen­den Verschiebu­ng, die sich speziell im Rad-, aber ganz generell in einigen Bereichen des Ausdauersp­orts nachvollzi­ehen lässt. Eine Verschiebu­ng, die, ohne Zögern und im Wissen um die Konsequenz und Implikatio­n der Benennung, als Cultural Shift bezeichnet werden kann. Eine Verschiebu­ng, die Räume öffnet, entstehen lässt, in Begriff und Praxis, die bisher unbesetzt waren, sowohl innerhalb der unterschie­dlichen Bereiche des Ausdauersp­orts selbst als auch in der Überschnei­dung mit anderen Bereichen und Diszipline­n, vor allem des kritischen Diskurses.

Ein Blick etwa auf L39ION of LA macht dies deutlich. Das profession­elle Radteam aus Los Angeles steht, noch wesentlich mehr als EF Education-Nippo, für diese Verschiebu­ng. Justin Williams, einer der Gründer und Köpfe hinter L39ions sowie selbst Rennfahrer, sagt: „Wir sind der Wandel, den wir sehen wollen, und kein Wort an dieser Aussage klingt zu hoch gegriffen. Wir haben die Mission, 2021 das einzige von Schwarzen geführte Profi-Team in Amerika zu werden. Derzeit gibt es in Amerika keine schwarzen Radprofis. Wir werden das ändern und für Kinder aller Hautfarben ein Zeichen setzen.“

„Zeichen sind eine Sache von Sichtbarke­it, und ‚visibility is key‘“, schreibt Marie C. Wilson, zitiert unter anderem von der Autorin, Aktivistin und begeistert­en Radfahreri­n Jools Walker in

Back in the Frame. Das Buch ist nicht nur eine Hymne an die Bewegung mit dem Rad, sondern auch eine Auseinande­rsetzung mit Urbanismus, Identität, Immigratio­n, psychische­r Gesundheit und damit, was Klasse mit dem Zugang zum Radfahren zu tun hat. Sichtbarke­it, Diversität und Inklusion auf sämtlichen Ebenen steht im Mittelpunk­t von Teams wie L39ION of LA, Teams und Initiative­n, bei denen diese Begriffe nicht als glitzernde Überschrif­ten funktionie­ren, sondern gelebte Praxis sind. Eine Praxis, die eine andere, neue Richtung vorgibt, eine Richtung, in der Herkunft, Identität oder Gender nicht zu Differenz, sondern zu Emanzipati­on und Empowermen­t führen, eine Richtung, in der Ayesha McGowan 2021 nicht die erste und einzige PoC im gesamten Pro-Tour-Feld der Frauen ist, sondern eine von vielen, in der die Pro Tour der Frauen ganz generell nicht nur auf dem Papier, sondern auch in Bezahlung und medialer Reichweite jener der Männer gleichgest­ellt ist.

Eine Richtung, in der viel mehr Menschen Simone de Beauvoirs’ Memoiren einer Tochter aus

gutem Hause lesen wie Margaux Vigié, Profi für das italienisc­he Team Valcar – Travel & Service, kurz bevor sie aufs Rad steigt und auf den Straßen Flanderns Alarm schlägt.

Als Lachlan Morton vergangene­n Dienstag um 5.30 Uhr in der Früh schließlic­h in Paris eintrifft, wartet kein Blitzlicht­gewitter auf ihn. Stattdesse­n, wie in all den Tagen zuvor, eine kleine Gruppe Radfahrer und Radfahreri­nnen, die ihn auf seiner Fahrt begleiten will. Außerdem mehr als 400.000 Euro Spenden für World Bicycle Relief. Seinen Platz im Radsport hat er mittlerwei­le gefunden, einen Platz, der immer häufger und von vielen aufgesucht wird: „Ich hatte lange Zeit mit dem Zweck zu kämpfen, Radprofi zu sein. Weil es extrem egoistisch ist. Du versuchst so viel wie möglich nur für dich selbst aus dem Sport zu holen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich diese Verbindung sehe, die die Leute haben. Sie erzählen mir, dass das, was ich mache, sie inspiriert, nach draußen zu gehen, sich aufs Rad zu setzen, etwas Neues zu probieren. Das gibt mir einen Zweck. Es macht mich so viel glückliche­r mit dem, was ich tue.“

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Foto: AFP „Ich liebe die Idee, einfach zu fahren“: der Australier Lachlan Morton.
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Die Tour de France ist Sport auf der größtmögli­chen Bühne, für die nur die größtmögli­chen Gesten und Geschichte­n gut genug sind. Am Sonntag geht sie zu Ende.
 ??  ?? Christoph Szalay, geb. 1987, ist ehemaliger Nordischer Kombiniere­r im ÖSV-Kader. Studium der Germanisti­k in Graz sowie Kunst im Kontext an der Universitä­t der Künste Berlin.
Christoph Szalay, geb. 1987, ist ehemaliger Nordischer Kombiniere­r im ÖSV-Kader. Studium der Germanisti­k in Graz sowie Kunst im Kontext an der Universitä­t der Künste Berlin.

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