Der Standard

Flutopfer bringen deutsche Regierung unter Druck

Köstinger: Auch Flutkatast­rophe in Hallein hätte verhindert werden können

- Cornelie Barthelme aus Schuld

– Mit Ausflüchte­n und Vertröstun­gen präsentier­ten sich Sprecher der Regierung am Montag in Berlin, als sie Medien Frage und Antwort zum Ablauf von Meldekette­n im Zuge der Flutkatast­rophe stehen sollten. Der Vorwurf, dass das europäisch­e Hochwasser­warnsystem Efas schon Tage vor der Katastroph­e eine Warnung herausgege­ben hätte, wurde damit quittiert, dass der Deutsche Wetterdien­st rechtzeiti­g informiert hatte.

Etwaige Schutzmaßn­ahmen seien „jeweils von den Einsatzkrä­ften vor Ort“zu treffen gewesen, womit die Verantwort­ung an die Länder und Kommunen abgegeben wurde. Der Sprecher des Bundesmini­sters für Finanzen, Olaf Scholz, sagt Soforthilf­e sowie Aufbauhilf­e zu, Zahlen nannte er keine.

In Österreich macht Landwirtsc­haftsminis­terin Elisabeth Köstinger (ÖVP) einen Einspruch des Naturschut­zbundes für die Flut in Hallein verantwort­lich. Das Genehmigun­gsverfahre­n für den Hochwasser­schutz hätte deshalb nicht bis Ende 2020 umgesetzt werden können. Der Naturschut­zbund weist die Vorwürfe von sich: Es sei nur die Art der Verbauung eines Teils des Projekts beeinspruc­ht worden. Der Halleiner Bürgermeis­ter betonte, es helfe niemandem, daraus ein Politikum zu machen. (red)

Die Ahr hat sich beruhigt. Sie plätschert und rauscht und umarmt das Dorf wie eine Mutter ihr Kind. Hellgrün ist ihr Wasser, und wo es auf kleine Hinderniss­e trifft – da schäumt sie weiß auf. Ein bisschen. Keine fünf Tage zurück aber hat die Ahr das Dorf überrollt. Wo sie sonst eine Schleife zieht, schoss sie brüllend geradeaus. Und nahm mit, was ihr in die Quere geriet. Autos. Straßen. Häuser.

Am Montagvorm­ittag geht Helmut Lussi durch sein Dorf. Alle fünf Schritte muss der Bürgermeis­ter von Schuld stehenblei­ben. Meistens, weil sein Telefon klingelt. Manchmal auch, weil ihn einfach jemand stoppt. Schuld wimmelt vor Helfern. Feuerwehr. Technische­s Hilfswerk. Rotes Kreuz. Bundeswehr.

„Mehr Menschen“, sagt Volker Landmesser, „als man auf die Schnelle koordinier­en kann.“Er ist einer von den Glückspilz­en. Sein Haus steht am Fluss. Als am Mittwoch der Regen kam, dachte er zuerst an die Mutter seiner Lebensgefä­hrtin, die ein Dorf weiter wohnt, im Überschwem­mungsgebie­t. „Rasch noch rüberfahre­n“, sagten sich die beiden; gut, wenn die Pumpe dort im Keller schon einmal läuft.

„Wie neben einem Wasserfall“

Sie kamen nicht weit. Die Ahr hielt sie auf. „Normalerwe­ise“, sagt Landmesser, „hörst du die kaum. Aber da war plötzlich ein Tosen, als stünde man neben einem Wasserfall.“Also umkehren. Vom Wohnzimmer aus sahen die beiden dann nicht nur, wie der Fluss dem Haus immer näher kam. Sie sahen – und hörten vor allem –, was er mitbrachte. „Da schwammen Wohnwagen vor uns vorbei!“

Viereinhal­b Tage danach liegt die Seitenwand

eines Campers am Rand der Dorfstraße, weit weg von Landmesser­s Haus. Außerdem Berge von dem, was das Wasser woanders mitgerisse­n hat und was sich dann an einer der Brücken in Schuld verkeilte.

Die alte Domhofsbrü­cke hat unten standgehal­ten. Oben nicht. Das Wasser hat die Wangen zerbrochen, den Asphalt weggespült. Jetzt bietet ein stählerner Behelf zumindest Fußgängern sicheren Weg.

Bürgermeis­ter Lussi geht weiter, gemeinsam mit Hauptmann Florian Howe. Der koordinier­t im 750-Seelen-Dorf Soldaten aus sieben Standorten. Vor ein paar Jahren war Howe in Afghanista­n. Jetzt sagt er: „Ich habe schon vieles gesehen, auch dort. Aber nichts ist so wie Schuld.“Während Howe es weiter Richtung Dorfkern versucht, zieht ein Hubschraub­er einen Kreis und dreht ab. Noch immer werden im Ahrtal Hunderte vermisst. Noch immer wird gehofft. Howe hat gerade erfahren, dass ein paar Dörfer weiter ein alter Eisenbahnt­unnel durchsucht wird, der in der Flutnacht vollgelauf­en war. 30 Tote würden befürchtet, sagt Howe leise.

Sicher ist, dass Cornelia Schlösser am Leben ist, „weil uns der Hans-Peter rausgeholt hat“. Als der Regen kam, brachte die Chefin der Dorfbäcker­ei ihr Auto in Sicherheit. Kaum war sie zurück, „lief das Wasser schon zum Laden rein, es ging alles so rasend schnell“. Am Ende wurde sie per Baggerscha­ufel von ihrer Terrasse geborgen – eben von Hans-Peter Diehl, der Menschen rettete, während die Ahr sein eigenes Haus mitriss. Er wolle darüber nicht reden, sagt er, er habe jetzt andere Sorgen.

Überhaupt: das Reden. Manche müssen einfach – wie der junge Marc Patron, der als

Helfer gekommen ist. Die vergangene­n drei Tage hat er im nahen Sinzig Schlamm und Schutt aus Häusern geholt. Und plötzlich war da, im dritten Keller, dieser winzige Körper mitten im Dreck … eine Babypuppe! Aber Marc wird noch immer blass beim Erzählen.

In Schuld haben alle überlebt. Sie haben keine Toten im Garten gefunden oder in Bäumen wie woanders. Der Schrecken ist ihnen trotzdem nahegekomm­en. Volker Landmesser­s Stiefsohn hat in der Flutnacht mit der Luftrettun­g Menschen aus ihren Campern geholt – und dabei über Leben und Tod entscheide­n müssen. Nach dem Einsatz, erzählt Landmesser, hat sein Stiefsohn geweint.

Cornelia Schlösser aber lacht – weil sie nicht weiß, wie ihr zumute ist. Sie hat ihre Bäckerei ausgeräumt, Laden, Backstube, alles. Zentnerwei­se Dreck und Müll, jetzt hilft sie bei Nachbarn. Wie sich das anfühlt? „Man kann das gar nicht sagen. Man funktionie­rt nur.“

Es geht nicht nur um Dinge

Bürgermeis­ter Lussi hat von Mittwochfr­üh bis Sonntagabe­nd genau acht Stunden geschlafen. Am Sonntagnac­hmittag, als die Bundeskanz­lerin in Schuld war, ist ihm kurz die Stimme schwach geworden. Jetzt sagt er dasselbe wieder: dass sie so vieles so gut hinbekomme­n hatten. Und dass jetzt so vieles kaputt ist. Er geht ihm nicht nur um Dinge.

Dort, wo bis Mittwoch der Tennisplat­z war, wird jetzt die Notstromve­rsorgung perfektion­iert. Daneben das Wasservers­orgungspro­visorium. Elektrizit­ät gibt es seit Samstag, mit dem Wasser wird es noch etwas dauern, mit dem Gas wohl bis zum Herbst. „Alles abgesoffen“, berichtet Landmesser, „und die Ringleitun­g fürs Wasser hat auch viel abgekriegt.“Internet und Mobilfunk seien schon vor der Flut eine Katastroph­e gewesen.

Aber nicht in Schuld werden jetzt Schuldige gesucht, sondern bei der Opposition in Berlin. Bundesinne­nminister Horst Seehofer und das für Katastroph­en zuständige Bundesamt hätten früh Bescheid gewusst – aber spät oder gar nicht gewarnt. „Alles Quatsch!“, sagt Lussi. „Starkregen- und Hochwasser­gefahr waren bekannt. Aber von 60 Zentimeter Wasserstan­d in drei, vier Stunden auf 7,87 Meter ...?“

Schräg gegenüber von Schlössers Bäckerei schreddert eine Maschine alles, womit das Wasser Schuld zugemüllt hat, Lastwagenl­adung für Lastwagenl­adung, doch die Berge werden nicht kleiner.

Über dem Dorf liegen Wolken aus dreckigem Staub. Hauptmann Howe sagt: „Diese Wucht der Natur. Dieser Zusammenha­lt. Diese Hilfsberei­tschaft im ganzen Land.“Bürgermeis­ter Lussi ergänzt: „Wir brauchen einen langen Atem.“Derweil plätschert die Ahr.

 ??  ?? Die alte Domhofsbrü­cke über die Ahr in Schuld hat gehalten – gerade noch. Zurzeit dürfen nur Fußgänger ans andere Ufer.
Die alte Domhofsbrü­cke über die Ahr in Schuld hat gehalten – gerade noch. Zurzeit dürfen nur Fußgänger ans andere Ufer.
 ??  ?? Lachen – aber nicht, weil sie fröhlich ist, sondern eher, weil sie nicht weiß, wie ihr zumute ist: Cornelia Schlösser, die Chefin der Dorfbäcker­ei, bei den Aufräumarb­eiten.
Lachen – aber nicht, weil sie fröhlich ist, sondern eher, weil sie nicht weiß, wie ihr zumute ist: Cornelia Schlösser, die Chefin der Dorfbäcker­ei, bei den Aufräumarb­eiten.

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