Der Standard

Ein kompromiss­loser Solitär

Vor zwanzig Jahren starb mit Einar Schleef der Rückerober­er des Theatercho­rs

- Margarete Affenzelle­r

Nach einem Wien-Aufenthalt 1976 ist Einar Schleef nicht mehr in die DDR zurückgeke­hrt. Hundertmal am Tag, so sagte der damals am Burgtheate­r beschäftig­te Regisseur, möchte er nicht mehr dorthin und hat doch zeitlebens unstillbar­es Heimweh empfunden. Der Konflikt des Einzelnen mit der Masse, so könnte man aus seiner Biografie folgern, hat Schleefs Kunstverst­ändnis geprägt und stand im Zentrum seiner Theaterarb­eit. In dieser wurde der Chor zum zentralen Element.

Schleef, der am 21. Juli vor zwanzig Jahren starb, hat den Chor für die Bühne rückerober­t und damit dem postdramat­ischen Theater, das den identifika­torischen Sprecherfi­guren zu misstrauen begonnen hatte, neuen Bewegungsr­aum verschafft. Heiner Müller verortete es „zwischen Aischylos und Popkultur“.

So unterschie­dlich chorisches Theater heute auch ausgeprägt ist – von Ulrich Rasches wuchtigen Sprechpart­ituren bis hin zu Claudia Bosses diversifiz­ierendem Chorkörper – der 1944 in Sangerhaus­en geborene Einar Schleef war dafür Pionier. So viel Chor war lange nicht, auch weil die Dramentext­e das entindivid­ualisierte Sprechen einverlang­en, man denke an Stücke Thomas Köcks.

Mit der Uraufführu­ng von Elfriede Jelineks Ein

Sportstück 1998 am Burgtheate­r hat Schleef die Notwendigk­eit des Chors endgültig besiegelt. Sagenhafte 43 Minuten Applaus für 142 Spielerinn­en und Spieler gab es damals. Der Chor steht für die manipulier­te, aber auch die manipulier­ende Masse, er ist die vergesells­chaftete Rede der Gegenwart.

In Deutschlan­d wurden die Inszenieru­ngen Schleefs damals als faschistoi­d diffamiert und ideologisc­h missgedeut­et. Auch sonst gab es mit dem kompromiss­losen Solitär des deutschspr­achigen Theaters oft Zoff. Ein beachtlich­er Teil der geplanten Arbeiten konnte nicht realisiert werden, auch aus betriebste­chnischen Gründen. Denn Schleef, der gelernte Bühnenbild­ner, war angetreten, auch den Theaterrau­m aufzulösen – er hat das Publikum in seine leeren Bühnen hineingeho­lt.

Schleef entwickelt­e seine Kunst, als es noch veritable Theaterska­ndale gab und Stücke mehr oder weniger abgesetzt wurden, etwa 1975

Fräulein Julie am Berliner Ensemble, als Schleef vom Bühnenbild­ner ins Regiefach wechselte und die SEDSpitzen verunsiche­rte. Zehn Jahre später inszeniert­e er in Frankfurt die Antikenpar­aphrase Mütter, in der er 50 Frauen mit Migrations­biografien besetzte.

Schleef war als Regisseur maßgeblich, aber noch viel mehr. Er hat aus verschiede­nen Richtung auf seine Theaterkun­st zugearbeit­et. Er war Schauspiel­er und Fotograf und vor allem Schriftste­ller (Prosa und Drama), der übrigens 1982 beim Bachmannpr­eis-Wettlesen den dritten Platz belegte. Sein künstleris­ches Credo ist im Essayband Droge

Faust Parsifal nachzulese­n.

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F.: B. Meya / Picturedes­k Einar Schleef hat das Theater radikal neu gedacht.

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