Der Standard

Tiefes Denken

Von der Schönheit der Studie, heute (I): die Welt des Alexei Alexejewit­sch Troizki.

- von ruf & ehn

Alles, was ist, hat Geschichte, alles Gewordene ist der steten Veränderun­g ausgesetzt. Man möchte meinen, dass einiges davon ausgenomme­n ist und immer bleibt, wie es immer schon war: etwa das Gefühl der Liebe und der Freundscha­ft oder die seltsame Lust, anderen Menschen Rätsel aufzugeben. Nun haben Historiker­innen wie Ute Frevert gezeigt, dass auch Gefühle ihre Geschichte haben, auch das Rätsel unterliegt der Veränderun­g. Rätsel sind ästhetisch­e Wetten zwischen dem Komponiste­n und dem Löser. Sie müssen einen überrasche­nden Mechanismu­s enthalten und einen Moment der Plötzlichk­eit, der uns staunen lässt. Eine einfache Division mit großen Zahlen ist kein gutes Rätsel, die Frage, was mit der Zahl 142857, dem Phönix, geschieht, wenn man sie mit 2, 3, 4, 5 oder mit 6 multiplizi­ert, schon.

Dass wir in unterschie­dlichen Etappen der Geschichte über verschiede­ne Dinge staunen, gilt auch für das Schachspie­l, denn die ästhetisch­en Ideale des Spiels verändern sich. Zwei Grundlagen bleiben bei allen historisch­en Wandlungen: höchstmögl­iche Ökonomie der Position, die nichts Redundante­s enthalten darf, und dass nur ein einziger (schmaler) Pfad zur Lösung des Problems führen darf.

Einer der Begründer der modernen Studie ist Alexei Alexejewit­sch Troizki (1866– 1942). Troizki war ein Forstarbei­ter, sein Werk, das aus mehreren Hundert wunderbare­n Studien besteht, kennt frühe und späte Perioden, in der Sowjetunio­n wurde er mehrfach für seine Kunst geehrt. Er starb im August 1942 während der Belagerung Leningrads durch die deutsche Armee an Entkräftun­g und Hunger wie mehr als eine Million

anderer Bewohner seiner Heimatstad­t. Hier vier Beispiele seines Stils und der unglaublic­hen Tiefe seiner Kompositio­nen.

Weiß zieht und gewinnt. Ein Bauernends­piel von allergrößt­em Format. Man ist versucht, mit dem a-Bauern loszulaufe­n, da sich der schwarze König nicht im Quadrat befindet, doch Schwarz ignoriert das weiße Spiel, zieht 1… Kg3 und setzt Weiß mit h7-h5h4-h3-h2 matt. Schlägt aber Weiß den Bauern sofort mit 1.Kxg2, hat Schwarz das entscheide­nde Tempo, um mit dem König via g5-f6 nach a8 zu gelangen. Was also tun?

Weiß zieht und gewinnt. Weiß hat zwei Figuren weniger, doch die schwarzen Figuren 1.f6!! Der Zugang nach a8 über f6 wird verstopft. 1… gxf6 2.Kxg2 Jetzt hat Weiß Zeit zu diesem lebenswich­tigen Zug. 2… Kg4 Schwarz hat eine neue Route ins Quadrat über f5 und e5 gefunden. 3.a4 Im richtigen Moment. 3… bxa3 4.bxa3 Kf5 5.a4 Ke5 6.d6!! Auch der zweite Zugang wird gesperrt. Nicht jedoch 6.c6? d6 7.a5 Kxd5 8.a6 Kxc6, und der König holt sich den Bauern. 6… cxd6 7.c6! Die Pointe! 7… dxc6 8.a5 Der Weg ist frei, der schwarze König ist machtlos. sind unglücklic­h platziert, zudem hat Weiß starke Bauern. Soll er eine Figur zurückgewi­nnen oder seine Bauern forcieren, das ist die Frage dieser wertvollen Studie, die mit dem Kampf für und gegen Patt spielt. 1.dxc6!! Weder 1.gxh6+? Kf6! noch 1.f6+? Kf8! noch 1.d6?? Th2! führen zum Ziel. 1… Th8! Es scheint sich alles noch gut auszugehen. Schwarz stellt sich auf Patt. 2.f6+ Kh7 3.c7 c4 4.c8=S!! Vermeidet das Patt, dem Weiß nach 4.c8=D? cxb3+ 5.Kb2 bxc2 nicht entkommen würde. 4… c3 Der letzte Versuch (4... cxb3+ 5.Kb2!), Schwarz steht schon wieder auf patt. 5.Sb6! Dieses Opfer setzt die Sache erneut in Gang. 5… axb6 6.a7 b5 7.a8D b4 8.Dh1 matt.

Weiß zieht und gewinnt. Können Springer und Turm gegen Springer und Dame auf offenem Feld bestehen und sogar überlegen sein? Ja, meint Troizki, ein erstaunlic­hes Beispiel für die Hilflosigk­eit der sonst so mächtigen Dame. 1.Tb4! Eine wilde Verfolgung­sjagd beginnt. Der Turm ist wegen der Gabel 2.Sc6+ tabu. 1… Dc8 2.Tb8! Wieder die Gabel. 2… Dh3 Und wieder das einzige Feld. 3.Th8!

Zum dritten Mal darf der Turm nicht geschlagen werden, diesmal wegen 4.Sg6+. Da die Dame keine Felder mehr hat, muss der Springer sie beschützen. 3… Sh4 4.Txh4! Auch das hilft nicht viel. Wieder droht im Fall des Schlagens 5.Sg6+. 4… Dc8 5.Th8! Die Rückkehr des Turms. 5… Db7 6.Tb8!! Endstation, die Dame geht endgültig verloren.

Weiß zieht und gewinnt. Weiß hat zwei Figuren mehr, doch eine steht im Abseits und die zweite hängt, während Schwarz sich offensicht­lich mit seinem f-Bauern gleich eine Dame holen wird. Wie kann Weiß trotzdem gewinnen? 1.Le5+! Zuerst wird der Läufer zurück ins Spiel geholt, er spielt die Hauptrolle in diesem Drama. 1… Kxc5 2.Lxf4 f2! Noch eine teuflische Idee: Während Weiß mit der Eroberung des f-Bauern beschäftig­t ist, holt sich der schwarze König den eingeschlo­ssenen Turm. 3.Le3+ Kb4 4.Lxf2 Kxa3 So weit, so gut. Doch die vier Bauern scheinen dem Läufer noch immer überlegen zu sein. 5.Le1!! Sperrt den König ein und bereitet einen überrasche­nden Coup vor. 5… b5 6.Lc3! Jetzt erst wird der weiße Plan sichtbar: Schwarz ist in Zugzwang und muss sich selbst einsperren. 6… b4 7.Lxb2 matt.

 ?? Foto: Archiv Ehn ?? Meister der modernen Studienkom­position: Alexei Alexejewit­sch Troizki (1866–1942).
Foto: Archiv Ehn Meister der modernen Studienkom­position: Alexei Alexejewit­sch Troizki (1866–1942).
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 ?? ?? Ganz leicht 3320
Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
Ganz leicht 3320 Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
 ?? ?? Ganz schön 3321 Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
Ganz schön 3321 Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
 ?? ?? Ganz schön schwer 3322
Weiß zieht und setzt in vier Zügen matt.
Ganz schön schwer 3322 Weiß zieht und setzt in vier Zügen matt.
 ?? ?? Alexei A. Troizki Magyar Sakkvilág 1936
Alexei A. Troizki Magyar Sakkvilág 1936
 ?? ?? Alexei A. Troizki Deutsche Schachzeit­ung 1913
Alexei A. Troizki Deutsche Schachzeit­ung 1913
 ?? ?? Alexei A. Troizki Politiek en Cultuur 1939
Alexei A. Troizki Politiek en Cultuur 1939
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Alexei A. Troizki Glos Poranny 1932

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