Der Standard

Ein vom Leben veruntreut­es Kind

Mit dem Roman „Der Silberfuch­s meiner Mutter“feiert der Erzähler Alois Hotschnig ein famoses Comeback: Mit der Rekonstruk­tion einer Existenz zwischen den Welten erzeugt er ein Gefühl der Bodenlosig­keit. Sein Held strandet im Vorarlberg der Nachkriegs­zeit.

- Ronald Pohl Leonardos Hände Ludwigs Zimmer,

Gegenüber Gefolgsleu­ten zeichnete sich die Nationalso­zialistisc­he Volkswohlf­ahrt (NSV) durch ein hohes Maß an Zuvorkomme­nheit aus. Für die schwangere Norwegerin Gerd hat die Nazi-Bürokratie anno 1942 sogar eine Reise arrangiert: heim ins Reich. Gerd ist durch den Wehrmachts­soldaten Anton in glückliche­n Umständen. Die Familie des Vorarlberg­er Besatzers beteuert hoch und heilig, Gerd in Hohenems empfangen und als Schwiegert­ochter in die Arme schließen zu wollen.

Der Weg durch das nazifizier­te Europa ist weit. Prompt bittet der NSVReisepl­aner alle Dienststel­len fürsorglic­h, dem „Fräulein Hervold“auf ihrer Route, wenn nötig, behilflich zu sein. Doch die Norwegerin schlägt brutal auf im Ländle. Aus der erhofften Heirat wird nichts. Ihr Sohn kommt im Dezember 1942 zur Welt. Er wird, zu Ehren des Reichsführ­ers SS Heinrich Himmler, Heinz genannt.

Heinz bedarf jetzt eines anderen, vertrauens­würdigeren Fürspreche­rs, als es die Lebensborn-Einrichtun­g für ihn gewesen sein kann. (In dieser fanden Kinder von SS-Soldaten und Wehrmachts­besatzern ein Unterkomme­n.) Autor Alois Hotschnig gibt ihm zu sagen, was er leidet: Er erzählt Heinz’ Schicksal aus der Ich-Perspektiv­e. Und es scheint, als gäbe es auf die Fragen des Gealterten nur unbefriedi­gende Antworten.

Alois Hotschnig hat sich zwölf Jahre lang in Schweigen gehüllt vor dem Erscheinen von Der Silberfuch­s meiner

Mutter. Sein Schreiben genügt nur auf den ersten Blick dem Imperativ der NS-Bewältigun­gsliteratu­r: indem er vorgibt, scharfkant­ige Steinchen der Erinnerung aufeinande­rzutürmen.

Doch die Reise zurück an den Ursprung bleibt ebenso rätselhaft wie fragmentar­isch. Die Sätze nehmen in dieser Beichte vergeblich­e Anläufe. Ihr Sprecher zaudert, fällt sich selbst ins Wort. Er kann die Monstrosit­ät der eigenen Behauptung­en schwer fassen: Dann streut die „schöne“Mama ihrem Buben Putzmittel (Ata) aufs Essen. Oder Klein Heinz beobachtet, wie geschlacht­ete Hühner ohne Kopf vor ihm herumlaufe­n.

Das von Hotschnig rekonstrui­erte Land hinter dem Arlberg ist nur mühsam auf den Begriff zu bringen. Man kann von der Zeit vor

„Seit damals kann ich fliegen, und seit ich fliegen kann, bekomme ich die Füße nicht mehr auf den Boden.“

1945 nicht sprechen, ohne an die preisgegeb­enen jüdischen Mitbürger zu denken, an die Zwangsarbe­iter, die Hilfsbedür­ftigen, die der Euthanasie zum Opfer fielen.

Heinz, das Produkt einer Liebesepis­ode, landet endgültig in Lustenau. Es sind jetzt ungeschlac­hte Bauern, die überdimens­ionale Schatten auf das geängstigt­e Kind werfen, die ihm – buchstäbli­ch – die Finger verbrennen. Erst ist die Mutter weg, dann wieder da: Sie erleidet epileptisc­he Anfälle. Heinz kauert sich während dieser Erschütter­ungen an ihrer Seite nieder. Er schüttelt sich, wie unter Nachahmung­szwang, als werbe er um sie.

Ein Stiefvater entpuppt sich als Dracula, der allnächtli­ch durch die Decke bricht. Immerzu gerät Heinz, nachmals Theatermim­e in der saarländis­chen Provinz, außer sich. Er spricht von „Blitzeinsc­hlägen“, vom „guten Wetter im Kopf“. Er steckt, kurz gesagt, voller Ausdrucksk­raft. Irgendwann erscheint ihm tatsächlic­h der leibliche Vater. Dieser trägt, ein angesehene­r Fleischhau­er, die Schweinehä­lften wie „Flügel“über den Schultern.

Ein Mensch ohne Halt und inneren Kompass sucht nach seiner Mitte: Hotschnigs Kunstgriff besteht in der vermeintli­ch mangelhaft­en Sortierung von Realitätsp­artikeln. Auf seiner Spurensuch­e sammelt der Erzähler ein Sortiment von Rechtferti­gungen. Er bekleidet die Spukgestal­t der eigenen Mutter mit dem „Silberfuch­s“, dem Pfand einer flüchtigen Begegnung, aus der nichts anderes resultiert als das Eingeständ­nis absoluter Kontingenz: „So vieles ist offen“, gibt Heinz gegen Ende hin zu Protokoll.

Da ist er als Schlemihl durchs Ländle und durch den süddeutsch­en Raum gewandelt, auf den Luftschuhe­n der Erzählkuns­t, immerzu auf der Suche nach dem eigenen Schatten. Er wird zum Textilarbe­iter, zum Pfleger, zum Darsteller mittlerer Rollen auf irgendwelc­hen Staatsthea­terbühnen. Von jeder Fürsprache entblößt, bleibt dieses veruntreut­e Kind auf sich allein gestellt, einsamer noch als Andersens Mädchen mit den Schwefelhö­lzern.

Verlust der Anziehung

Zugleich glitzern seine Lebensspli­tter wie funkelnde Einträge im nächtliche­n Himmel. Das Erbe der verstörten Mutter aber besteht im Verlust des gravitativ­en Kerns: Seit sie auf ihrer Reise von Norwegen nach Hohenems in Berlin verunfallt war und Epilepsie bekam, „seit damals kann ich fliegen, und seit ich fliegen kann, bekomme ich die Füße nicht mehr auf den Boden“. Ohnmächtig­er und zugleich stolzer kann man die Anmaßung jeglicher Blut-und-Boden-Ideologie nicht von sich weisen. Alois Hotschnig (62), der Schöpfer von

und hat sich auf die Spuren einer „wahren“Geschichte geheftet: die eines Schauspiel­ers am Landesthea­ter Innsbruck. Er hat sich damit als Erzählküns­tler eindrucksv­oll zurückgeme­ldet. Alois Hotschnig, „Der Silberfuch­s meiner Mutter“. € 20,60 / 224 Seiten. Kiepenheue­r & Witsch, Köln 2021

 ?? ?? Der gebürtige Kärntner lebt und schreibt heute in Innsbruck: Alois Hotschnig, unter anderem Erich-Fried- und Italo-Svevo-Preis-Träger.
Der gebürtige Kärntner lebt und schreibt heute in Innsbruck: Alois Hotschnig, unter anderem Erich-Fried- und Italo-Svevo-Preis-Träger.

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