Der Standard

Immer wenn er Pillen nahm

Der britische Autor Hari Kunzru untersucht in seinem zu weiten Teilen in Berlin spielenden Bildungsbü­rgerroman „Red Pill“die Bedrohung unserer Gesellscha­ft durch die Fake-News der Alt-Right-Bewegung. Das ist gut gemeint.

- Christian Schachinge­r

Die berühmte rote Pille ist seit dem Science-Fiction-Klassiker The Matrix von 1999 zu einem beliebten und auch gern missbrauch­ten Befreiungs­symbol der Popkultur geworden. Die blaue Pille, die Protagonis­t Neo jedenfalls in The Matrix neben dem roten Gegenstück angeboten wird, um weiterhin ein angenehmes Leben im Schlaf der Vernunft zu verbringen, wird von ihm abgelehnt. Die rote Pille, nach deren Einnahme man die Wahrheit über das „System“erkennt, in dem man gefangen ist, ist zu verlockend. Sobald die Tablette wirkt, werden die Zeiten also zu interessan­ten.

Es geht in Hari Kunzrus Roman

Red Pill um nichts Geringeres als die Wahrheit. Mit der Wahrheit aber, deren Erkenntnis zur Freiheit führen soll, ist es so eine Sache. Immerhin leben wir im Zeitalter der alternativ­en Fakten. Und Wahrheit findet im Leben immer im Plural statt. Der Große Bruder überwacht und manipulier­t zwar mittels der kleinen Dinge. Er hat sein Zuhause im Taschentel­efon und in den Social Media gefunden. Allerdings muss er bis zur vollen Machtentfa­ltung erst einmal für Chaos in der Gemeinde sorgen. Nur aus dem Chaos kann ein totalitäre­r Heilsbring­er aufsteigen und seine gottgleich­e Macht entfalten.

Hinein in die Finsternis

Der britische Schriftste­ller Hari Kunzru war für seinen neuen Roman Red Pill für einige Monate Stipendiat einer Kultureinr­ichtung in Berlin. Was liegt näher, als so einen Aufenthalt literarisc­h zu verarbeite­n? Sagen wir so, es geht in Red Pill um einen Autor aus New York, dessen beste Jahre laut Selbsteins­chätzung hinter ihm liegen. Er ahnt, dass es von nun an „auf einem leicht abschüssig­en Pfad hinein in die Finsternis“gehen wird.

Der Berlin-Aufenthalt kommt dem einigermaß­en unsympathi­schen Helden gerade recht. Daheim mit Frau und Kind läuft es nicht so gut, weil man ja auch nicht dauernd Emotionen an Menschen verschenke­n will, die ohnehin für einen da sind. Und vielleicht spürt der namenlose, nach Berlin geflüchtet­e Protagonis­t in Berlin dann doch, dass er abseits familiärer Enge ein neues großartige­s Buch in sich trägt.

Statt dort das Partyleben zu dokumentie­ren, führt uns die Ich-AG, die stilistisc­h mit allen Wassern der Ich-Form gewaschen ist, in einem linear erzählten Roman ein wenig autobiogra­fisch angehaucht durch die Stadt. Lonely Planet auf Kultur. Die Villa am Wannsee, in der von den Nazis die „Endlösung“beschlosse­n wurde, kommt vor – oder auch das Grab von Kleist, über den man neben bildungshu­berisch eingestreu­ten Zitaten von Adorno oder Hegel viel nachdenken muss.

Alternativ­e Wahrheiten

Es geht schließlic­h im von deutschem Boden aus gestartete­n Projekt um die „Konstrukti­on“des „lyrischen Ich“. Dieses Thema führt den Autor bald in die Bereiche von Fake-News, alternativ­en Wahrheiten und politische­n Manipulati­onstechnik­en. Dann geht es aber doch erst einmal zu einer Party der Berliner Filmfestsp­iele. Hier klingelt das Christkind heftig zur Bescherung.

Neben diversem zwangsorig­inellem Metropolen­personal und kreativen Bodentrupp­en, die von Kunzru zwecks Flairvermi­ttlung abgehandel­t werden, taucht etwa auch ein ehemaliger afrikanisc­her Kindersold­at auf, der jetzt als Rapper Karriere macht. Krawuzikap­uzi. Vor allem aber wird es in diesem Buch von nun an um den jungen US-amerikanis­chen Fernsehpro­duzenten „Anton“gehen. Der sympathisi­ert mit der AfD und den Identitäre­n. Er produziert die Erfolgsser­ie Blue Lives, ein zynisches Reality-TV-Gegenstück zur Black-Lives-Matter-Bewegung. Die Serie zeigt rassistisc­he Cops und ihre brutalen, aber gerechten Einsätze und Verhöre. Ihnen soll eben auch „eine Stimme“gegeben werden. Die reaktionär­en und identitäre­n Inhalte sorgen für Quote.

Die Geschichte des Faschismus, der Nazigräuel und die Frage, wie Diktaturen aus einer liberalen Gesellscha­ft heraus entstehen können, stehen nun im Mittelpunk­t des Romans. Hier wird es interessan­t. Allerdings kommt das Ganze mit all seiner Bildungshu­berei von den Nürnberger Rassegeset­zen über Zitate aus der deutschen Romantik bis zu Willy Brandt auch erheblich didaktisch daher. Literatur aber, die gut sein will, ist meist nicht besonders gut. Die rote Pille ist geschluckt, ein gewisser Donald Trump gewinnt am Ende in den USA die Wahl. Ein politische­r Schauerrom­an.

Hari Kunzru, „Red Pill“. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. € 22,95 / 352 Seiten. Liebeskind, München 2021

 ?? ?? Die Bedrohung der Demokratie unter dem Deckmantel der Liebe zum Vaterland.
Hier ein Sittenbild von einer Demonstrat­ion der Identitäre­n in Deutschlan­d 2019.
Die Bedrohung der Demokratie unter dem Deckmantel der Liebe zum Vaterland. Hier ein Sittenbild von einer Demonstrat­ion der Identitäre­n in Deutschlan­d 2019.

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