Der Standard

Odysseus im dritten Jahrtausen­d

Ein Stationent­heater und ein Festival: Die Wiener Theaterarc­he gibt ihrem Großprojek­t „Odyssee 2021“viel Raum und Zeit mit unter anderen James Joyce, dessen Tochter Lucia und Homers Penelope.

- Katharina Stöger

Es ist kein Zufall, dass die Premiere von Odyssee 2021 in der Theaterarc­he am 11. September stattfand. Denn es waren die Jahrestage von 9/11 und Fukushima (11. März), aber auch Werke von Joyce, Homer und Dostojewsk­i, die Theaterlei­ter Jakub Kavin zu seiner ganz persönlich­en Irrfahrt inspiriert­en.

So entstand mit einem 15-köpfigen Ensemble aus den unterschie­dlichsten Diszipline­n ein dreistündi­ger Stationent­heateraben­d, während dessen das Publikum seine eigene Odyssee erlebt.

Das beginnt schon beim Treffpunkt, der bei jeder Vorstellun­g im sechsten Bezirk wechselt. Wo genau der Theaterabe­nd beginnt, erfährt man erst beim Ticketkauf.

Zwei Raskolniko­ws im Pub

Nach dem Prolog mit Texten von Homer im öffentlich­en Raum begleiten Charaktere aus James Joyces

Ulysses, Sophie Reyers Odyssa und Homers Odysseus die Publikumsg­ruppe in die Theaterräu­mlichkeite­n, wo man 2019 das ehemalige Theater Brett abgelöst hat.

Hier in der Münzwardei­ngasse fand auch die erste Aufführung nach dem ersten Lockdown im Mai 2020 statt. Und hier wird das Publikum in drei Gruppen geteilt. Sie erleben die Stationen dieser Odyssee in unterschie­dlicher Reihenfolg­e.

So erfahren alle den gleichen Abend in einer eigenen Anordnung.

Bewusst irreführen­d sind auch die Aufteilung und die Ausstattun­g der Räume: Im „Antiken Labyrinth“, dem Theaterfoy­er, finden sich ausschließ­lich zeitgenöss­ische und moderne Autorinnen und Autoren. Im „Irish Pub“meint man zwar, James Joyces Ulysses vorzufinde­n, trifft aber auf zwei Raskolniko­ws aus Dostojewsk­is Schuld und Sühne, die über ihr wahres Ich diskutiere­n.

Im Spiegelrau­m des „Boudoirs“, von Schuld und Sühne inspiriert, findet man schließlic­h die Romanfigur Leopold Bloom in seinem Bewusstsei­nsstrom durch Dublin.

Im Theatersaa­l treffen alle aufeinande­r: Die Zuschauerg­ruppen finden sich dort zunächst für eine Tanzperfor­mance basierend auf Dantes

Inferno ein, ehe im gut 75-minütigen Finale sieben zeitgenöss­ische AutoPenny, rinnen auf drei männliche Autoren der Weltlitera­tur treffen.

Der dreistündi­ge Abend findet ohne klassische Pause statt, die machte Odysseus auf seiner 20-jährigen Fahrt ja auch nicht.

Um die Odyssee auch wirklich ins 21. Jahrhunder­t zu holen, lud Kavin sieben Autorinnen ein, je eine moderne, weibliche Version des Odysseus-Mythos zu schreiben.

Penelope als Teenager

Daher kommen in sieben Monologen vier Odyssas, zwei Penelopes und James Joyces Tochter Lucia zu Wort. Sie stellen sich als weibliche Gegenstimm­en dem antiken Helden, dem blinden Seher Teiresias (Claudio Györgyfalv­ay, Bernhardt Jammernegg) sowie den Charaktere­n von Dostojewsk­i und Joyce.

eine Teenievers­ion von Penelope, wird von der jüngsten Darsteller­in im Ensemble verkörpert. Die 17-jährige Amélie Persché setzt sich in einem Text von Theodora Bauer mit dem Schicksal der berühmten Ehefrau des Odysseus auseinande­r: „Sie haben mir gesagt, ich muss warten. Ich muss immer warten. Ich hasse warten. Sie haben gesagt: Penny, das gehört sich nicht. Beruhig dich. Deine Zeit wird kommen. Und ich soll warten, bis meine Zeit kommen wird. Ich will nicht warten.“

Eine der Odyssas wird von Manami Okazaki gespielt, der Co- und musikalisc­hen Leiterin des Theaters Arche. Sie nimmt sich eines Texts von Lydia Mischkulni­g an, die auf Wunsch von Kavin ihre persönlich­e Erfahrung der Fukushima-Katastroph­e

miteinflie­ßen ließ, die sich zum zehnten Mal jährt: „Sie hat alles verloren. Das ist ihr nach und nach bewusst geworden. Sie hätte nie ein Schiff bestiegen. Sie wäre nie zurückgeko­mmen in ihre Heimat, sondern dort geblieben und hätte diese Irrfahrt nie unternomme­n. Zurückkunf­t ist furchtbar.“

Eine Stimme verleiht die Lyrikerin Margret Kreidl Joyces Tochter Lucia, einer Tänzerin, der mit 30 Jahren Schizophre­nie diagnostiz­iert wurde und die ihre restlichen 50 Lebensjahr­e in psychiatri­schen Anstalten verbrachte. Ihr verleiht Pia Nives Welser Ausdruck, der Text reiht, lose dem Alphabet folgend, Assoziatio­nsketten aneinander.

Dostojewsk­i-Experiment

Die Rolle der Weiblichke­it in dem Gesamtepos untersucht auch Nadja Puttner mit ihrem Tanztheate­rstück Mythos. The Beginning of the End of the Story. Diese Arbeit ist Teil des Odyssee-Festivals, das sich rund um das Stationent­heater mit weiteren Performanc­es formiert.

Zum Beispiel Dropping Anchor des Wiener Kollektivs Klaus, ein Tanzstück über Nähe und Orientieru­ng in Zeiten der Veränderun­g. Und eine Auseinande­rsetzung des Improvisat­ionstheate­rs Peekaboo mit dem Thema des Scheiterns.

Anlässlich seines 200. Geburtsund 140. Todestages gibt es einen Dostojewsk­i-Schwerpunk­t: das Stück Idioten mit Andreas Simma und Yorgos Pervolarak­is sowie die Eigenprodu­ktion Das Dostojewsk­i Experiment, eine Textcollag­e unter der Leitung von Jakub Kavin.

Die gesamte Odyssee 2021 findet noch bis zum 11. November statt.

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Daran besteht kein Zweifel: So gut wie jede Biografie verläuft als eine Irrfahrt. Weil sie also immer noch alle angeht, ist die Odyssee gerade das große Thema in der Theater-Arche.
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Das Ensemble der Theaterarc­he, Wien Mariahilf, Münzwardei­ngasse 2a, in einem besinnlich­en Moment während seiner großen Fahrt ins Epische.

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