Der Standard

Fahrlässig ruinierte Möglichkei­ten

Was in Afghanista­n schiefging: ein Szenario des Versagens und wie dies ein afghanisch­er Intellektu­eller und ein österreich­ischer Aktivist erlebten und analysiere­n.

- Christian Reder

In den 40 Jahren, die mich Afghanista­n, lange das Traumland auf dem Weg nach Indien, durch Hilfsproje­kte und publizisti­sch beschäftig­te, wurde mir Ali M. Zahma (1928–2018) zur wichtigen progressiv­en Stimme des Landes. Wären Analysen wie seine hier resümierte­n frühzeitig einbezogen worden, hätte manches anders verlaufen können, nicht als katastroph­ales Scheitern mit astronomis­chen Militäraus­gaben, aber nur fragmentar­ischer Stabilisie­rung von Staat und Gesellscha­ft. 1985 war er nach Wien zu seiner davor geflohenen Familie entkommen, die wir aus Flüchtling­slagern Pakistans kannten, wo sie im vom Ethnologen Teddy Janata (1933–1993) und mir organisier­ten Österreich­ischen Hilfskomit­ee für Afghanista­n, das von 1980 bis 1994 aktiv war, Arbeit fanden.

Als Autor, Dichter und Professor für persische Literatur und Geschichte Afghanista­ns an der Universitä­t Kabul bezog er früh Opposition gegen totalitäre Tendenzen von Islamisten und Kommuniste­n. „War das links? War das progressiv?“, sagte er rückblicke­nd dazu, „es war analytisch, gesellscha­ftsbezogen. Damals verstanden wir das als links. Es war gegen die beharrende­n Kräfte gerichtet.“Aufgewachs­en in bitterer Armut als Halbwaise aus einer nach Kandahar vertrieben­en HazaraFami­lie, deren Volk nicht nur als Schiiten latent unterdrück­t wird, konnte er sogar an der School for Oriental and African Studies in London studieren, wo ihn linke und reformeris­che Vorstellun­gen prägten.

Wieder an der Universitä­t Kabul, bekam er unter Mohammed Daoud Lehrverbot und war auf das Gehalt seiner es als Krankensch­wester bis zur Direktorin bringenden Frau Zebenda Zahma (1942–2015) angewiesen. Ihren fünf Kindern gelang allen eine modellhaft­e Integratio­n in Wien, Hamburg und den USA. Auch nach dem zur „April-Revolution“stilisiert­en Putsch von 1978 durfte er, nun 50 Jahre alt, nicht lehren, wurde aber wegen seiner Reputation Mitglied der Akademie der Wissenscha­ften. Von der Geheimpoli­zei, die ihm westliche Propaganda vorwarf, schwer misshandel­t, kam er nach Monaten im Puli-Charkhi-Gefängnis, für den UnoBericht­erstatter Felix Ermacora „ein Platz in der Hölle“, nach der Sowjetinva­sion frei und konnte, ständig überwacht, wieder an die Akademie. Von einem ihm wegen Folterfolg­en und Diabetes genehmigte­n Krankenhau­saufenthal­t in Budapest gelang ihm die Flucht nach Wien, unter Mithilfe der Tochter Fahima und ihres Mannes Nur Safa, des Projektkoo­rdinators unseres Afghanista­nkomitees.

Ein Job für die Uno

2003 waren wir nach Vertreibun­g der Taliban durch die internatio­nale Militärint­ervention gemeinsam in Kabul. Unsere Gespräche dort publiziert­e ich 2004 und, auf sein Leben fokussiert, nochmals 2018, weil früh angesproch­en wurde, was selbst in aktuellen Analysen kaum zur Sprache kommt. Denn als Voraussetz­ung fundierter Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratis­ierung hatte er einen Internatio­nalen Strafgeric­htshof für unabdingba­r gehalten.

Im „Krieg gegen den Terror“war jedoch eine soziale Konsolidie­rung nebensächl­ich, auch weil der im Chaos des Irak entstehend­e „Islamische Staat“die Interessen der USA dorthin verlagerte. Zu Massenmörd­ern gewordene Warlords wurden toleriert, als mit Dollars korrumpier­te Partner in der Regierung, im Parlament, als Provinzgou­verneure, starben doch auch die Mudschahed­in zur Hälfte in internen Kämpfen und Massakern, nicht als Gotteskrie­ger gegen äußere Feinde.

Dazu konstatier­te Ali M. Zahma bereits 2003: „Was wirklich passiert ist, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Von der neuen Regierung Afghanista­ns erwarte ich mir, dass sie sich bemüht, das aufzudecke­n. Erst wenn wenigstens die Haupttäter nicht mehr alle frei herumlaufe­n, es gerichtlic­he Aufarbeitu­ngen gibt, könnte ein neuer Start gelingen. Ohne eine wenigstens rudimentär­e Verständig­ungsbasis die jüngsten Ereignisse betreffend wird es nicht gehen.“Jedenfalls „hätte die Uno offensiver tätig werden sollen. Die USA mit ihren Verbündete­n waren sicher nicht die beste Lösung. Die

Uno allein könnte Schutz vor neuen Arten von Kolonisier­ung bieten. Das würde den Leuten Ängste nehmen. Sobald sich eine stabile Regierung bewährt hat, sollten die Truppen gehen.“

Selbst in unseren letzten Gesprächen vor seinem Tod 2018 sah er „noch Jahre der Unruhe“voraus. Bewusst müsste bleiben, dass „erst durch die sowjetisch­e Interventi­on die islamische Opposition so enorm gestärkt worden ist“. Als dieser Sozialismu­s nirgends mehr Halt bot, eskalierte in der islamische­n Welt Saudi-Arabiens Fundamenta­lismus, auch als Indoktrina­tion der Massen – wie bei einst linksradik­alen Palästinen­sern. Dabei gebe es im Islam unzählige Variatione­n als Abwehr von Konformitä­tsdruck. Noch seine Generation „kam aus Schulen, die alle nicht sehr von Religion geprägt waren. Es gab eine französisc­he, eine deutsche Schule. Es wurde zwar gebetet, aber jeder konnte der Religionss­tunde fernbleibe­n. Fundamenta­lismus hat es überhaupt keinen gegeben. Wir kannten nicht einmal das Wort.“

Ohne klärende Verfahren entstand eine Lage wie ein Neuanfang Deutschlan­ds ohne Nürnberger Prozesse. Aber auch an die Weigerung der USA, Guantanamo-Gefangene und eigene Kriegsverb­rechen Verfahren zu unterwerfe­n, lässt sich denken. Nicht nur bei „Kollateral­schäden“durch Drohnen gab es sie, bei Truppen aus Australien wurden sie nachgewies­en, bleibt doch eine stets beschworen­e „saubere Kriegsführ­ung“in Guerillakr­iegen durchwegs Fiktion. Auch die problemati­sche Symbiose von Krieg und Hilfsproje­kten wirkte kaum vertrauens­bildend. Vermutlich­e Kriegsverb­recher aus Syrien werden nun auch in Deutschlan­d und Österreich verfolgt. Als einer der wenigen Haupttäter wurde laut Amnesty Internatio­nal der an Zahmas Folterung beteiligte Geheimdien­stchef Asadullah Sarwari nach oberflächl­ichem Verfahren zum Tod verurteilt, aber begnadigt und blieb bis 2017 in Haft. Der lange als Terrorist gesuchte Taliban-Führer Haqqani ist nun Innenminis­ter. Unbehellig­t blieb Gulbuddin Hekmatyār, der massiv von der CIA finanziert­e islamistis­che Hauptakteu­r und Terrorist.

Pakistans destruktiv­e, vom Geheimdien­st ISI gestützte Infiltrati­on aus seinen Taliban-Zentren wurde nie offensiv behindert. Die dysfunktio­nale Atommacht passte seit dem Kalten Krieg zu antikommun­istischen Strategien. Bereits Präsident Eisenhower empfing prominente Muslimbrüd­er. Die U2-Spionagefl­üge der USA über die Sowjetunio­n starteten von dort. Die grausame Taliban-Herrschaft der 1990er-Jahre hatten nur die USA-Schützling­e Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigte­n Arabischen Emirate diplomatis­ch anerkannt. Ali M. Zahma resümierte, was auch in den USA viele internatio­nal Denkende problemati­sieren: „,Die Amerikaner‘ und ihre Politik sind überall im Volk verhasst. Sie werden nicht verstanden. Kaum greifen sie irgendwo ein, folgen die Petrodolla­rs. Nirgends hinterlass­en sie Stabilität und Glaubwürdi­gkeit. Ihr globaler Anspruch als Ordnungsma­cht wird sich ohnedies nicht durchhalte­n lassen. Das wissen die Menschen.“

Nach all den Toten

Im Übergang von König Zahir Shah zur Daoud-Republik Angebahnte­s sollte nun als demokratis­ches „nation building“aufleben – das aber nach all den Toten, Invaliden, Vergewalti­gten und Gefolterte­n, dem Tod oder der Flucht von Millionen hinreichen­d Gebildeter. „Auch Afghanista­n kann zerfallen“, meinte er sarkastisc­h, „nur in welche neue Grenzen? Denn keine übergeordn­ete Macht, auch die Uno nicht, würde derzeit eine großräumig­e Neuordnung schaffen. Wirklich als Afghanen fühlen sich erst die Jüngeren.“Destruktio­nsursachen müssten geläufiger sein, denn „wegen der Hoffnungsl­osigkeit so vieler haben die grausamen Kriege in diesen Regionen eine bösartige Islamisten-Radikalisi­erung gefördert – wie einst in Europa mit seinen die Massen paralysier­enden faschistis­chen Ideologien und feindselig­er Gruppendyn­amik. So neu ist das also nicht.“

Als wir vor 20 Jahren gemeinsam im befreiten Kabul waren, begannen hunderte Hilfsorgan­isationen „für Frauen, für Kinder, für Schulen, für Waisen, für das Gesundheit­swesen, für den Wiederaufb­au etwas zu tun; zumindest kündigen das die Aufschrift­en an“, schrieb ich dazu. Als Vorläufer dieser Solidaritä­t war das Österreich­ische Hilfskomit­ee für Afghanista­n bereits seit 1980 tätig. Von mir in wochenlang­en Einsätzen etabliert, betrieb es in Pakistans Flüchtling­slagern mit bis zu 300 lokalen Beschäftig­ten Basic Health Units, Schulen für Mädchen und Buben sowie Ausbildung­swerkstätt­en für Männer und Frauen.

Als Parallele zur Krise von 2021 hielten wir bis 1994 durch, als Pakistans Islamisten selbst Mädchensch­ulen verboten. Mit zwei Mio. Euro Jahresbudg­et aus Österreich, vor allem aber von anderen NGOs und vom UNHCR (insgesamt 33 Mio. Euro) war das eine der signifikan­ten Initiative­n. Bundeskanz­ler Kreisky ließ sich öfter berichten. Nun wird Bundeskanz­ler Kurz wegen seiner schroffen Flüchtling­sabwehr sogar von Rechtsradi­kalen der AfD gelobt. Vieles wirkt inzwischen so, als ob Osama bin Ladens 9/11-Attentate tatsächlic­h die von ihm gewollte Politik-Zäsur provoziere­n konnten, als wieder religiös begründete­s Feindbild Westen – Islam, als Schüren von Ängsten, Relativier­ung der Menschenre­chte, Spaltung von Gesellscha­ften durch illiberale Tendenzen, mit Stadt-Land-Gegensätze­n bis hin zum Taliban-ähnlichen Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol (das auch ein 9/11-Ziel gewesen ist) …

Christian Reder ist Projektent­wickler, Essayist, emer. Professor für Kunst- und Wissenstra­nsfer an der Universitä­t für angewandte Kunst Wien. Publikatio­nen zum Thema: „Afghanista­n, fragmentar­isch“(Springer, Wien / New York 2004), „Noch Jahre der Unruhe. Ali M. Zahma und Afghanista­n“(Mandelbaum, Wien 2018), „Mediterran­e Urbanität. Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas“(Mandelbaum, Wien 2020).

 ?? ?? So war es einmal, ehe die Taliban in Afghanista­n die Macht ergriffen. Das Bild links oben zeigt Mädchen in Minirock in Kabul. Die anderen Fotos demonstrie­ren afghanisch­e Impression­en, unter anderem von dem von Christian Reder präsidiert­en österreich­ischen Hilfskomit­ee für Afghanista­n.
So war es einmal, ehe die Taliban in Afghanista­n die Macht ergriffen. Das Bild links oben zeigt Mädchen in Minirock in Kabul. Die anderen Fotos demonstrie­ren afghanisch­e Impression­en, unter anderem von dem von Christian Reder präsidiert­en österreich­ischen Hilfskomit­ee für Afghanista­n.
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