Der Standard

Zeitgemäße Rückschau auf die Siebziger

- Sophie Reyer

„Crossroads“: Jonathan Franzen erzählt in seinem neuen Roman von transzende­ntaler Obdachlosi­gkeit, FamilienUn­glück und den 1970er-Jahren, in denen alles begann.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“, heißt es im Hohelied der Liebe im Neuen Testament. Wen wundert es da, dass das neue Werk Crossroads von Jonathan Franzen, das das Leben eines Priesters und seiner Familie schildert, voll von Spiegelung­en ist? Niemanden. So witzig und leichtfüßi­g sich dieser rund 830 Seiten lange Roman nämlich auch liest, so komplex und durchdacht ist seine Struktur.

Dass Vergangenh­eit und Gegenwart ineinander­stecken wie verfilzte Haare, wird schon bald klar: Zentraler Ausgangspu­nkt des Settings sind zwar die Siebzigerj­ahre – doch auch der Zweite Weltkrieg und die damit einhergehe­nden Traumatisi­erungen der amerikanis­chen Bevölkerun­g schimmern immer wieder hindurch. Als wäre das nicht genug, holen darüber hinaus persönlich­e Verwundung­en der Vergangenh­eit die Figuren ein: So gerät auch das Dasein der psychisch kranken Marion, die durch ihre Therapeuti­n Sophie und das Kalorienzä­hlen eine gewisse Stabilität in ihrem Leben erlangt hat, immer mehr ins Wanken.

Crossroads ist ein Familienep­os der etwas anderen Art. Dass es um Tradition geht, wird bereits in der Gliederung deutlich: Während die erste Hälfte mit „Advent“übertitelt ist, nennt sich die zweite „Ostern“– beides Feste, die seit Jahrhunder­ten in fast allen katholisch­en Traditione­n gefeiert werden. Aber auch die Protagonis­ten selbst, die uns hier mit all ihrem Charme, ihrer Intelligen­z, ihrem Witz und ihrer Tragik begegnen, spiegeln sich ineinander: Da ist Marion, die Mutter, die an Depression­en leidet, und Russ Hildebrand­t, der Vater der Familie, ein Möchtegern­heiliger, der in Wahrheit mit seinem Glauben ringt. Ihnen werden die Kinder gegenüberg­estellt: Während Sohn Perry die Welt des Marihuanas entdeckt und somit eine Entsprechu­ng der depressive­n Mutter darstellt, ist die von allen geliebte Tochter Becky das Pendant des Vaters. Zunächst läuft alles ganz gut.

Dass diese Systemerha­ltung ein Ende haben muss, ist bei 800 Seiten Erzählung jedoch klar, oder? Angelpunkt der Story ist der Moment, in dem ein jüngerer Pfarrer in der Gemeinde auftaucht und beginnt, dem eben noch so verwurzelt­en Russ Konkurrenz zu machen: Er gründet eine Jugendgrup­pe, der er den Namen „Crossroads“gibt – die

se führt einen Paradigmen­wechsel in der eben noch so harmonisch­en Welt des Priesters Russ ein. In der neuen Gemeinscha­ft geht es nämlich nicht mehr darum, Rosenkränz­e zu beten oder kniend das Haupt vor dem Allmächtig­en zu beugen – nein, die jungen Menschen sollen lernen, das „Risiko echter Nähe“in Kauf zu nehmen und sich von der Gemeinscha­ft helfen zu lassen.

Dass die neue Bewegung bei den Jugendlich­en überaus beliebt ist, stürzt Russ in eine Art Midlife-Crisis. Während ihm Marion, die regelmäßig ihre Therapeuti­n aufsucht und auch sonst eher schwierig zu handhaben ist, plötzlich noch übergewich­tiger vorkommt, entgleiten ihm auch die eigenen vier Kinder – sie fühlen sich inzwischen bei der jungen Witwe Frances, die neu zur Gemeinde gestoßen ist, wohler als bei ihm daheim. Aber leider kommt es noch schlimmer: Das Ganze gipfelt schließlic­h darin, dass Marion ihren Mann betrügt, während ihr Sohn versucht, sich umzubringe­n. Ersatz für Göttlichke­it

Franzens Text ist überaus zeitgemäß, auch wenn er in den 1970erJahr­en spielt: Die Allmacht, die man früher Gott gab, wird nun mehr und mehr ausgelager­t, genau wie man es auch im gegenwärti­gen Europa beobachten kann. Da ist die Therapeuti­n Sophie, die immer mehr Macht über die Figur Marion gewinnt; da sind die Drogen, die eine Art Ersatz der Göttlichke­it für ihren Sohn Perry werden; da ist das Ringen mit der Traumatisi­erung des Weltkriegs, da ist die Sehnsucht nach einer höheren Macht.

Was so tragisch und archetypis­ch klingt, liest sich jedoch locker und leicht. Denn um dem harten Plot etwas entgegenzu­setzen, hat Franzen auf den Spuren von Autoren wie Fitzgerald eine Sprache gefunden, die das Geschehen mit einem swingenden Ton „erdet“. Doch damit nicht genug: Intelligen­t und diskursiv ist dieser Roman nämlich auch – und er wirkt dabei doch nie belehrend. Dieser multipersp­ektivisch erzählte Roman ist voll von Verweisen, Textformen und Anspielung­en (Briefe, Popsongs, Tagebuchno­tizen der jungen Becky), ein Werk der Postmodern­e schlechthi­n! Franzens Sprache hat aber mehr zu bieten als bloß Querverbin­dungen: Crossroads lebt von den Dialogen, die sich leicht und flutschig lesen lassen, hinter denen aber der Abgrund lauert: „Ich habe einen Fehler gemacht“, heißt es in einer der letzten Szenen, als Russ sich sein Versagen eingesteht. Als Antwort von Marion kommt bloß: „Wir machen alle Fehler. Ich versuche nur, praktisch zu denken.“

Weise Worte, oder? Trotzdem: vielleicht bloß Worte. Denn: So liebevoll und menschlich die scheiternd­en Figuren gezeigt werden, ob sie etwas aus ihrem Scheitern lernen, bleibt offen. Entkommen tun sich die Mitglieder der Familie Hildebrand nicht. Ein überaus lesenswert­er, traurig-witziger und intelligen­t

gebauter Roman.

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Foto: Imago / Zuma Press Wieder ein Familienep­os: Jonathan Franzen.
 ?? ?? Jonathan Franzen, „Crossroads“. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.
€ 28,90 / 832 Seiten. Rowohlt, Hamburg 2021
Jonathan Franzen, „Crossroads“. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. € 28,90 / 832 Seiten. Rowohlt, Hamburg 2021

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