Der Standard

Das Jerusalem des Nordens

Vilnius, wie es war: Die Prosa des jiddischen Dichters Chaim Grade beschwört einen zerstörten Kosmos herauf.

- Alexander Kluy

Ein Dichter von Rang ist zu entdecken. Sein Name: Chaim Grade. 1910 in Wilna geboren. 1982 in New York gestorben. Anfangs- und Endpunkt markieren einen literarisc­hen Kontinent, der heute fern und hartnäckig verscholle­n, dessen Kartierung nur noch nebulös ist. Denn Grade schrieb auf Jiddisch. Und er beschrieb einen Kosmos, der zerstört, zerschlage­n, erschossen und vergast wurde – das jüdische Wilna, Vilne, Vilnius.

„Mein Winkel Europas ermöglicht aufgrund der dort stattfinde­nden außerorden­tlichen und todbringen­den Ereignisse, für die nur verheerend­e Erdbeben die passende Metapher scheinen, eine besondere Perspektiv­e, der zufolge alle, die von dort stammen, die Poesie unseres Jahrhunder­ts etwas anders zu beurteilen pflegen als die Mehrheit meiner Hörer.“

Als der 1911 geborene polnische Dichter und Nobelpreis­träger Czesław Miłosz dies 1982 in einer Vorlesung an der Harvard University bekannte, sprach er über eine Grenzregio­n, die er, der Emigrant, damals seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte – Nordostpol­en und Litauen, Städte wie Kaunas und Kowno und Vilnius, Letzteres auf Polnisch Wilno, auf deutsch Wilna. Und auf Jiddisch Vilne.

170 Jahre zuvor soll Napoleon, der Kaiser der Franzosen, auf seiner Kampagne durch Russland, die so schmählich und grausig für Zehntausen­de endete, in Wilna gesagt haben: „Messieurs, mir scheint, wir sind in Jerusalem.“So auffällig waren auf den Gassen der Stadt die vielen orthodoxen Juden, dass sie als „Jerusalem des Nordens“und als „Jerusalem Osteuropas“bezeichnet wurde.

Erstmals auf Deutsch

Seit dem Jahr 1740 war Wilna ein Ort jüdischer Frömmigkei­t, Gelehrsamk­eit und der Haskala, auch säkularer Bildung, Kultur, Poesie. Es gab viele Druck- und Verlagshäu­ser und Poeten, die auf Jiddisch schrieben. Vom jüdischen Wilna – in den 1920ern lebten 40.000 dort, ein Viertel der Bevölkerun­g – handelt die Prosa Chaim Grades, die fast 40 Jahre nach seinem Tod nun erstmals auf Deutsch vorliegt in der Anderen Bibliothek, die schon Bücher von Moische Kulbak und Grigori Kanowitsch präsentier­te.

Die in Boston lebende deutschame­rikanische Judaistin Susanne Klingenste­in hat die Texte einfühlsam in ein gut lesbares Deutsch umgehoben, sie hat auch ein außergewöh­nlich informativ­es langes Nachwort beigesteue­rt. Klug hat sie zwei späte lange Erzählunge­n ausgewählt. Mit dem biografisc­hen Essay aber sollte man beginnen. In Armut geboren, wollte seine Mutter – der Vater war schon früh schwer krank – Chaim durch Rabbinersc­hulen bringen, mit 22 Jahren brach er das Studium ab, kehrte zu ihr zurück.

Gemeinsam lebten sie in einem winzigen fensterlos­en Kabuff, abgetrennt von einer Schmiedewe­rkstatt, er las und schrieb den ganzen Tag bei Kerzenlich­t, sie ernährte ihn und sich, indem sie mit Ausnahme des Sabbats täglich am Straßentor ihres Wohnhauses mit zwei Körben tiefgefror­ener Äpfel saß, die sie bis zum Abend zum Kauf feilbot.

In den frühen 1930er-Jahren wurden Grades erste düstere Poeme gedruckt. Ab 1940/41 wurde Wilna erst von den Sowjets, dann von den Nazis okkupiert, die in mörderisch­er Manier fast alles Jüdische ausmerzten. Grade, ein Melancholi­ker mit vulkanisch­em Temperamen­t, floh, verlor seine Frau, irrte jahrelang zwischen Wilna, Tadschikis­tan und Moskau umher und kam 1946 via Łódź nach New York.

Dort lebten damals rund 250.000 Jiddisch lesende und sprechende Juden, es gab vier jiddische Zeitungen. Bis zu seinem Lebensende konnte er nicht von seinen Büchern leben, er hielt Vorträge. Nach seinem Tod herrschte Grades Witwe rigide über sein Werk, untersagte Ausgaben und Nachdrucke und galt vielen als „Hexe“. Erst nach ihrem Tod 2010 kam Bewegung in die Beschäftig­ung mit seinem komplexen Werk, das eines ist – Erinnerung und Beschwörun­g.

Tiefe und Leidenscha­ft

Wenig hat Grade mit den eher pittoreske­n Schilderun­gen Isaac Bashevis Singers zu tun, den er wie auch andere jiddische Autoren als lustigen Narren für ein nichtjüdis­ches Publikum verabscheu­te. Bei Grade ist die Welt eng, ungemütlic­h, verharzt, unerbittli­ch. In Die

Rebezzin schildert er eine Rabbinerfr­au, die, von Rache und Hyperehrge­iz befeuert, ihren Mann, die Familie und ganze Gemeinden ins Unglück reitet. Lejbe-Leisers Hof ist ruhiger. Hier ringt aufs Bitterste Fanatismus mit Moderne, liberales Denken mit dem Insistiere­n auf Buchstaben­prinzipien. Rabbi Joel Weintraub fühlt, dass ihn das Rabbineram­t, das Ausspreche­n und Anwenden von Verboten, überforder­t, so zieht er nach Wilna, wird Porusch, Talmudgele­hrter ohne Arbeit oder Einkommen, im kleinen Bethaus in Lejber-Leises Hof, seine zarte Frau Hindele ernährt ihn und sich durch den Verkauf frischer Eier.

Starrsinn, Frömmigkei­t und Lebenslust kollidiere­n bei Familien des Hofes, führen zu Streit, emotionale­n Tragödien und final denn doch zu Ausgleich und Balance. Mit großer Intensität, Tiefe und leidenscha­ftlicher Passion erzählt Grade. Eine Entdeckung von hohen Graden.

 ?? ?? Chaim Grade, „Von Frauen und Rabbinern. Zwei Erzählunge­n“. Übersetzt und mit einem Nachwort von Susanne Klingenste­in. € 45,30 / 424 S. Die Andere Bibliothek, 2020
Chaim Grade, „Von Frauen und Rabbinern. Zwei Erzählunge­n“. Übersetzt und mit einem Nachwort von Susanne Klingenste­in. € 45,30 / 424 S. Die Andere Bibliothek, 2020

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