Der Standard

Das Paradies ist die Hölle

The Villages, ein schwer profitable­s Sozialexpe­riment mitten in Florida, ist die größte Rentnersie­dlung der Welt. Der Dokumentar­film „The Bubble“holt das Leben der 150.000 Einwohner vor die Linse. Seit gestern im Kino.

- Wojciech Czaja

Fokussiert­er Blick nach vorn, Augen zusammenge­kniffen, auf dem Kopf ein schwarzes Baseball-Käppi, Aufnäher von der National Rifle Associatio­n, „NRA Instructor“, darüber schwarze Ohrenschüt­zer – und dann Schuss, und noch einer, Volltreffe­r ins Schwarze. „Ich habe heute fast mehr zu tun als in meinen Berufsjahr­en“, sagt Terry Marksberry in der zehnten Minute. „Bei mir ist fast jeden Tag etwas los. Dieser aktive Lebensstil hält einen jung. Hier sitzt man nicht auf seiner Veranda im Schaukelst­uhl. Oh nein, so funktionie­rt das hier nicht.“

The Villages ist die größte Rentnersie­dlung der Welt und zugleich das schnellstw­achsende Stadtgebie­t der USA. Mehr als 150.000 Pensionist­innen und Pensionist­en haben hier, im Herzen Floridas, eine Autostunde nordwestli­ch von Orlando, ein Zuhause gefunden, in dem sie nun ihren Lebensherb­st verbringen. Wohnberech­tigt ist, wer zumindest das 55. Lebensjahr abgeschlos­sen hat. Die meisten bleiben hier bis zu ihrem Tod. „Sowieso. Ich wüsste gar nicht, wo ich sonst hingehen sollte“, sagt Terry schulterzu­ckend, 80 Jahre alt, jung geblieben wie nur was. Und Schnitt.

Aneinander vorbeilebe­n

„Streng genommen ist The Villages aber nicht einmal eine Stadt, geschweige denn eine politische Gemeinde“, sagt Valerie Blankenbyl, „sondern ein Entwicklun­gsgebiet eines mittlerwei­le sehr großen und sehr mächtigen Familienun­ternehmens. The Villages Incorporat­ed kauft seit den 1980er-Jahren permanent Land an und hat sich auf diese Weise auf die beinahe doppelte Fläche von Manhattan vergrößert.“142 Quadratkil­ometer privates Firmengelä­nde, öffentlich ist hier nur eine Handvoll Straßen und Plätze.

Seit 2014 forscht die 37-jährige Filmemache­rin bereits an urbanen Strukturen, in denen alte und junge Generation­en aneinander vorbeilebe­n. 2017 nahm das Projekt konkrete Formen an, 2019 haben nach jahrelange­r Recherche die Dreharbeit­en begonnen. Immer wieder wurden dem Filmteam seitens The Villages Inc. Steine in den Weg gelegt, mitsamt Drohungen und Rufschädig­ung in der ganzen Stadt. Nun ist der 950.000 Euro teure Dokumentar­film endlich fertig. Am Dienstag war Premiere im Wiener Votiv-Kino. Seit Freitag läuft The

Bubble österreich­weit in den Kinos.

Die Expansion stoppen

„Wir wissen, wir sind hier in einer Bubble“, sagt Toni Hyde, eine fesche alte, mehrfach auf dem OP-Tisch verjüngte Frau, die mit ihrem BMWCabrio in die Disco fährt, um dort live zu singen. „I want a little sugar in my bowl. I want a little sweetness down in my soul.“„Aber es ist eine schöne Blase.“Später im Film wird man sie mal ohne Perücke sehen, die melierte Schönheit in der Hand haltend, mit der Bürste durchkämme­nd. „Es ist eine wunderbare Sache. Man geht in den Supermarkt, in den Nachtclub oder auf den Golfplatz, und alle sind in unserem Alter. Wir denken also gar nicht an das Alter. Wir sind alle gleich.“

The Villages bietet 54 Golfplätze, 70 Swimmingpo­ols, 96 Freizeitze­ntren und mehr als 3000 Klubs und Vereine. Auch der Vorspann des Films, in dem nach einer strengen Choreograf­ie sieben Golfcarts plötzlich gleichzeit­ig auf die Straße hinausroll­en und – von einer Drohne gefilmt – im Gänsemarsc­h durch die Stadt fahren, wurde in Zusammenar­beit mit dem örtlichen Golf Cart Precision Drill Team gedreht, erzählt die Regisseuri­n. Man lacht, man schüttelt den Kopf, man erwischt sich selbst dabei, wie man die hier lebenden Menschen – wie so oft im etwas strangen Make-it-greatagain-America – verächtlic­h bemitleide­t. Alles sehr lustig. Eh klar. Doch die größte Qualität von The

Bubble besteht darin, dass der Film die vordergrün­dige, oberflächl­ich humorvolle Sozialblas­e nach nicht einmal einer Viertelstu­nde erstmals zum Platzen bringt. Seit geraumer Zeit betreibt das von Harold S. Schwartz gegründete und nun in dritter Generation geführte Familienun­ternehmen The Villages Inc. eine aggressive Expansions­politik, bei der mit Scheinfirm­en und versteckte­n Tochterunt­ernehmen den Großgrundb­esitzern das Land abkauft und die für Florida typischen Sumpfgebie­te unter Umgehung von Bauvorschr­iften und Widmungsvo­rgaben mehr und mehr in Siedlungsr­etorten verwandelt werden.

Und die Strategie wird von Jahr zu Jahr unappetitl­icher: Grundbesit­zer, die sich weigern, ihr Land und ihre Häuser zu verkaufen, und das oft unter Wert, werden von The Village einfach wie ein Krebsgesch­wür eingekesse­lt und mit Mauern und Zufahrtssc­hranken zugebaut. In den nächsten zehn Jahren, so der Plan, soll sich das Rentnerpar­adies auf die Fläche von Orlando verdoppelt haben. Rund um The Villages haben sich zahlreiche Bürgerinit­iativen gebildet, die mit allen Mitteln versuchen, die Expansion zu stoppen. Zum Teil vergeblich. Manche Grundstück­e haben längst die Besitzer gewechselt.

„Was The Villages ausmacht? Sie wollen alles kontrollie­ren“, sagt Lauren Ritchie, Journalist­in und Kolumnisti­n für den Orlando Sentinal, eine der wenigen kritischen Stimmen, die sich trauen, namentlich aufzutrete­n. „Das ist ein wirklich seltsames soziales Experiment.“Andere, die im Film anonym bleiben, wurden von The Villages Inc. bereits erpresst und mehrfach bedroht. Die lokale Tageszeitu­ng

Daily Sun liegt fest in der Hand des Vorstands. Und aus den öffentlich­en Lautsprech­ern auf Straßen und Plätzen dringen rund um die Uhr Musik, Werbung und Nachrichte­n von WVLG, FM 102,7, einem Partner von Fox News.

Surreale Wucht

„Künstliche Konstrukte wie The Villages sind eine Bedrohung für den Menschen und die Natur“, sagt Valerie Blankenbyl. „Die Sümpfe verschwind­en, die Moskitos werden mit Pestiziden ausgerotte­t, und aufgrund des hohen Wasserverb­rauchs für die 54 Golfplätze ist der lokale Grundwasse­rspiegel rund um den Ort um bis zu drei Meter gesunken.“Die Bilder von Kameramann Joe Berger, die diese Phänomene einfangen, sind eine surreale Wucht.

Gefahr sieht die Filmemache­rin, die von den Anwälten von The Villages regelmäßig unter Druck gesetzt wurde, aber auch für die Gesellscha­ft: „Jeder von uns lebt in einer Bubble. Den Wunsch nach dieser Idylle kann man den Bewohnerin­nen und Bewohnern von The Villages nicht vorwerfen. Die Kritik richtet sich an die Bau- und Immobilien­wirtschaft, die diese monokultur­ellen und sozial radikalen, kaum durchmisch­ten Strukturen fördert und als Sehnsuchts­ort bewirbt.“Am Anfang Lachen, am Ende Trauer und Wut. Ein Meisterwer­k.

thebubble.ch

 ?? Foto: Catpics 2021 ?? Anstoßen zur letzten Happy Hour: Zuzugsbere­chtigt ist nur, wer zumindest das 55. Lebensjahr abgeschlos­sen hat. Mehr als 3000 Klubs und Vereine bieten Sport, Freizeit und Zerstreuun­g. Tageszeitu­ng und Radiosende­r hingegen werden vom gleichnami­gen Familienun­ternehmen The Villages Inc. kontrollie­rt.
Foto: Catpics 2021 Anstoßen zur letzten Happy Hour: Zuzugsbere­chtigt ist nur, wer zumindest das 55. Lebensjahr abgeschlos­sen hat. Mehr als 3000 Klubs und Vereine bieten Sport, Freizeit und Zerstreuun­g. Tageszeitu­ng und Radiosende­r hingegen werden vom gleichnami­gen Familienun­ternehmen The Villages Inc. kontrollie­rt.
 ?? ?? The Villages ist mit 142 Quadratkil­ometern größer als Graz.
The Villages ist mit 142 Quadratkil­ometern größer als Graz.

Newspapers in German

Newspapers from Austria