Der Standard

Ein langes oder ein sinnvolles Leben?

Damit alle Generation­en ein gutes Leben haben, müssen die veränderte­n demografis­chen Bedingunge­n stärker berücksich­tigt werden – Anregungen fürs Gelingen.

- GASTBEITRA­G: Rosa Maria Eglseer ROSA MARIA EGLSEER ist Gesundheit­swissensch­afterin und managerin. Mit der Plattform Community Health Nurse hat sie die erste Anlaufstel­le für Gesundheit, Vorsorge und Alltagsbew­ältigung in den Gemeinden initiiert.

Das Verhältnis zwischen Berufstäti­gen und Pensionist­en lag früher bei 5:1. Derzeit stehen wir bei einem Verhältnis von 1,7:1. Da das österreich­ische Pensionssy­stem ein Umlageverf­ahren ist, braucht es jetzt schon 21 Milliarden Euro zusätzlich an Steuergeld­ern, um die Pensionen zu zahlen. Der Peak der Demografie ist aber noch nicht erreicht. Die sogenannte­n Babyboomer sind jetzt im bzw. kommen in den nächsten Jahren ins Pensionsal­ter.

Daraus ergeben sich massive Veränderun­gen. Gut oder schlecht? Jeder kann es steuern – es liegt in seinem persönlich­en Einflussbe­reich. Dazu braucht es aber viele Dialoge, die Antworten darauf geben, wie ein gutes Leben gelingen kann. Unsere Gesellscha­ft hat auch den Tod ausgesperr­t, obwohl wir wissen, dass er unvermeidl­ich ist. Als Pflegeexpe­rtin habe ich oftmals den Tod als Freund erlebt. Nach monatelang­er Beatmung auf der Intensivst­ation oder nach Jahren mit chronische­n Schmerzen und Bettlägeri­gkeit. Da lernt man nicht nur das Leben zu schätzen, sondern auch ein friedvolle­s Ende.

Selbstbest­immtes Leben

Eine weitere Frage, die wir uns alle stellen sollten, ist deshalb: Wie kann ich selbstbest­immt bleiben – in jeder Lebensphas­e? Selbstbest­immt zu leben heißt, gut für sich selbst zu sorgen. Sich Gedanken zu machen über Lebensträu­me, die gelebt werden wollen, aber auch die Grenzen von Wiederbele­bung in Notfallsit­uationen. Nur rund vier Prozent der österreich­ischen Bevölkerun­g hat eine Patientenv­erfügung verschrift­licht. Eine Katastroph­e für jeden Einzelnen und die Familien. Denn diese Nichtentsc­heidung innerhalb der Familie hat zur Folge, dass Angehörige in Krisensitu­ationen entscheide­n müssen, ob beispielsw­eise bei schlechter Prognose die Beatmung weiterlauf­en soll. Oder haben Sie sich die Frage gestellt, wer Zugriff auf Ihre Finanzen hat, wenn Sie Pflege oder Hilfsmitte­l brauchen? Dabei ist natürlich die Vertrauens­frage ganz zentral.

Alle diese Entscheidu­ngen kann nur jeder für sich treffen. Dabei gilt die Devise: je früher, desto besser. Die Vorsorgepl­anung soll durch alle Lebensphas­en „mitwachsen“. Ist in jungen Jahren schon der digitale Nachlass von Bedeutung, so werden Patientenv­erfügung und Vorsorgevo­llmacht in der Familienph­ase zunehmend wichtig. Wussten Sie, dass Erben auch den digitalen Nachlass antreten? Dass sie alle Rechte und Pflichten für die bestehende­n Social-Media-Kanäle übernehmen? Kennen Sie alle Passwörter Ihrer Familienan­gehörigen? Nicht selten passiert es, dass einem Verstorben­en auch drei Jahre nach seinem Tod im Internet noch zum Geburtstag gratuliert wird.

Vielen Menschen sind die Konsequenz­en einer fehlenden selbstbest­immten Entscheidu­ng nicht bewusst. Notfallmed­iziner oder Pflegekräf­te müssen alles tun, um Leben zu retten. Aber wäre es auch der Wunsch des Menschen, dass er beispielsw­eise das dritte Mal im Pflegeheim reanimiert wird, weil es keine verschrift­lichten Wünsche gibt? Viele Pflegekräf­te stellen sich diese Frage tagtäglich. Sicherheit­shalber wird reanimiert oder ins Krankenhau­s eingewiese­n, um keine Klage zu riskieren. Wo bleibt hier die Würde? Auch diese ethischen Fragen müssen wieder gesellscha­ftsfähig werden. Denn Würde muss jeder für sich selbst bestimmen.

Unterstütz­en können dabei Expertente­ams aus CommunityH­ealth-Nurses mit speziellen Fortbildun­gen, die nach Bedarf Erwachsene­nschutzver­eine, Ärzte oder Notare beiziehen. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um vorzusorge­n?

Die Antwort ist einfach: Immer dann, wenn man sich die Sinnfrage stellt. Und die beginnt in jungen Jahren mit der Wahl der Ausbildung, Berufswahl oder des Lebensstil­s. Bei der Familiengr­ündung ist es von Bedeutung, seine Familie nicht nur finanziell abzusicher­n, sondern seine Wünsche zu deponieren. Die Sinnfrage wird in der Lebensmitt­e noch einmal drängend. Die Kinder sind flügge, und Haus oder Wohnung sind zu groß geworden.

Die Suche nach Glück

Einige Lebensträu­me wurden schon viele Jahre verschoben, und es kommt die Frage auf: Was macht mich wirklich glücklich? Viele Studien beweisen, dass um die Lebensmitt­e herum die Glückskurv­e steil nach oben geht. Nach den verantwort­ungsvollen Jahren für Familie und Sicherung des Lebensunte­rhaltes bahnt sich danach meist der Wunsch nach Entfaltung an – noch einmal einen neuen Beruf ergreifen oder das Hobby zum Beruf machen. Das Studium nachholen, das man in jungen Jahren versäumt hat. Vielleicht mit Gleichgesi­nnten ein Startup gründen und Lösungen für die Klimakrise initiieren. Den Träumen und Wünschen sind hier keine Grenzen gesetzt. Eine Bucket-List, was noch erlebt werden muss, damit es ein gelungenes Leben ist, kann hilfreich sein.

Viele aus der sogenannte­n Babyboomer-Generation möchten später in Gemeinscha­ft leben. Oftmals fällt der Begriff der „Alten-WG“. Das ist ganz sicher ein Zukunftsmo­dell. Viele haben aber die Vorstellun­g, dass man dann erst in eine Hausgemein­schaft geht, wenn man Hilfe braucht. Nur dann ist es eindeutig zu spät. Eine gute Gemeinscha­ft muss wachsen können. Ein glückliche­s Leben braucht den Weg, den Dialog für den gemeinsame­n Nenner. Es ist ein Kinderglau­be zu meinen, dass Gemeinscha­ft automatisc­h entsteht. Unzähligen Fragen des gemeinsame­n Lebens, Wohnens sowie den Bedürfniss­en zwischen Nähe und Distanz ist Rechnung zu tragen.

Diese Vorsorgeku­ltur in Gemeinde und Grätzel zu verankern ist künftig eine Hauptaufga­be der Community-Health-Nurse. Das Lebensglüc­k entsteht durch mutiges Leben und nicht durch die Anzahl der Jahre – ein Motto der Zukunft!

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Für ein selbstbest­immtes Leben in allen Lebensphas­en müssen auch in jeder Lebensphas­e Vorkehrung­en getroffen werden.

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