Der Standard

Bittere Bilanz

Bei Menschenre­chtsfragen ist man zu oft eingeknick­t. Das Prestigepr­ojekt CO₂-Besteuerun­g wurde zur Reform light. Es ist höchst an der Zeit, dass sich die Grünen neu aufstellen.

- Harald Walser HARALD WALSER ist Historiker und ehemaliger Gymnasiald­irektor. Er war von 2008 bis 2017 grüner Nationalra­tsabgeordn­eter.

Mit dieser ÖVP ist kein Staat mehr zu machen. Schon gar nicht eine Reformpoli­tik. Was die Grünen in den vergangene­n Monaten an Demütigung­en durch den Koalitions„partner“akzeptiert haben oder aus Sicht der Verantwort­lichen akzeptiere­n mussten, hat längst das Maß des Erträglich­en überstiege­n.

Völlig wahnwitzig und de facto nicht durchsetzb­ar war die Forderung, Menschen auch noch während und nach der Machtübern­ahme durch die Taliban nach Afghanista­n abzuschieb­en. Nach Afghanista­n! Und die Menschenre­chte?

Durchsetzb­ar aber war, in Österreich geborene Kinder auch nach langjährig­em Aufenthalt und Schulbesuc­h bei uns in ihre „Heimatländ­er“, die sie nie gesehen hatten, abzuschieb­en. Von den Kindern, die man im Schlamm von Moria liegen lässt, gar nicht zu reden. Das alles ist an Boshaftigk­eit wohl kaum zu überbieten. Und sozialpoli­tisch? Statt die untersten Einkommen zu unterstütz­en und damit die Konjunktur anzukurbel­n, will die ÖVP genau dort den Sparstift ansetzen und das Arbeitslos­engeld kürzen. Dabei ist es schon jetzt bei 55 Prozent Nettoersat­zrate im Europaschn­itt extrem niedrig.

Schließlic­h neben den Menschenre­chten ein Herzstück grüner Politik: der Klimaschut­z. Soll die vergangene Woche präsentier­te Ökosteuerr­eform wirklich das Beste aus der grünen Welt sein? Während es etwa in Schweden seit 1991 eine CO₂-Bepreisung gibt, die dort 120 Euro pro Tonne ausmacht, den Verkehrsun­d Gebäudesek­tor betrifft und jährlich mit der Inflation angepasst wird, beginnen wir nächstes Jahr mit 30 Euro! Das ist bestenfall­s eine Ökosteuerr­eform light.

Die Aufzählung könnte problemlos fortgeführ­t werden. Weder im Bildungsbe­reich noch im ökologisch so wichtigen Landwirtsc­haftsberei­ch gab es von türkiser Seite substanzie­lle Zugeständn­isse. Jetzt ist das Maß voll!

Dazu beigetrage­n hat auch die von Kanzler Sebastian Kurz zum Ausdruck gebrachte Verachtung gegenüber zentralen Instanzen unseres Justizsyst­ems und die Verhöhnung des Rechtsstaa­ts durch ÖVP-Abgeordnet­e wie zuletzt Andreas Hanger („linke Zellen“) und Gabriela Schwarz mit ihrem verräteris­chen „Es ist nichts mehr da“im Vorfeld der Hausdurchs­uchung − nicht etwa: „Es gibt nichts, und es gab nie etwas.“Wohl auch der letzte involviert­e türkise Funktionär dürfte da gewusst haben, was zu tun ist.

So etwas ist in der türkisenen Welt möglich, in der grünen nicht. Es gab gute Gründe für eine Koalition mit der ÖVP. Auch das Argument, man habe „Ärgeres“verhindern wollen, ist nachvollzi­ehbar. Die Alternativ­en für die ÖVP wären ein scheintote SPÖ und eine völlig aus dem Ruder gelaufene rechtsextr­eme FPÖ gewesen. Doch die Voraussetz­ungen für die Grünen waren extrem schwierig. Es gab 2019 keinen Parlaments­klub, die neu gewählten Abgeordnet­en hatten größtentei­ls keine oder nur wenig politische Erfahrung. Die ÖVP und Kurz sind verantwort­lich für die jetzige Krise. In kaum zu überbieten­der Arroganz schwelgten ihre Spitzenfun­ktionäre im Gefühl der Unantastba­rkeit. Die Partei ist kommunikat­iv allerdings bestens aufgestell­t und strickt schon an der Legende, dass der unumgängli­che Bruch der Koalition ganz allein in der Verantwort­ung der Grünen liege und nicht etwa im eigenen Fehlverhal­ten.

Die Grünen haben nicht nur in Sachen Kommunikat­ion Nachhol- und Lernbedarf. Die grüne Handschrif­t muss deutlicher sichtbar werden – durchaus auch in jenen Bereichen, die in Ressortzus­tändigkeit des Koalitions­partners liegen.

Dünnes Eis

Und bei einem Partner wie der ÖVP muss eines klar sein: Es ist ein dünnes Eis, auf dem wir uns bewegen. Demokratie ist nichts Selbstvers­tändliches. Sie muss tagtäglich geschützt werden und braucht die unabhängig­e Justiz ebenso wie eine freie Presse. Das sollte der ÖVP deutlich kommunizie­rt werden, wenn nötig, auch öffentlich.

Zum türkisen Gejammer von wegen „Vorverurte­ilung“: Natürlich gilt bis zu einer rechtskräf­tigen Verurteilu­ng das Prinzip der Unschuldsv­ermutung. Aber an politische Ämter sind höhere Ansprüche zu stellen. Wenn auf rechtskräf­tige Verurteilu­ngen gewartet werden müsste, wären sogar Karl-Heinz Grasser und Heinz-Christian Strache noch im Amt. Denkbar?

 ?? ?? Auch bei den Grünen heißt es „Weitermach­en wie bisher ist nicht mehr“. Aber was tun? Wie sich inhaltlich positionie­ren?
Auch bei den Grünen heißt es „Weitermach­en wie bisher ist nicht mehr“. Aber was tun? Wie sich inhaltlich positionie­ren?

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