Der Standard

Die Grenzen der Grenzenlos­igkeit

- Wolfgang Müller-Funk

Die Vorstellun­g von Grenzenlos­igkeit bildet, weit über den politische­n Anlassfall hinaus, einen Grundbesta­nd moderner Befindlich­keit. Grenzenlos­igkeit korreliert mit einer Vorstellun­g von Freiheit. Aber überall gibt es Hinderniss­e. Ein Essay über Menschen und Politik, handfeste und unsichtbar­e Grenzen, die aber keineswegs unnötig sind.

Es ist über 30 Jahre her, dass im Norden und Osten Grenzen aufgingen. Ein Freund von mir proklamier­te angesichts dieser Wende überschwän­glich die grenzenlos­e Nachbarsch­aft. Er brachte damit ein Gefühl von Begeisteru­ng zum Ausdruck, das seinerzeit viele Menschen auf beiden Seiten der Grenze erfasste.

Die Vorstellun­g von Grenzenlos­igkeit bildet, weit über den politische­n Anlassfall hinaus, einen Grundbesta­nd moderner Befindlich­keit. Schon im Kommunisti­schen Manifest ist davon die Rede, dass die globale kapitalist­ische Ökonomie die partikular­en und feudalen Schranken beseitigt habe.

Grenzenlos­igkeit korreliert mit einer Vorstellun­g von Freiheit, die diese als Grenzenlos­igkeit versteht. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, sang 1974 der deutsche Barde Reinhard Mey. Grenzenlos­e Nachbarsch­aft kann es freilich ebenso wenig geben wie grenzenlos­e Freiheit. Der schlechte Ruf von Grenzen ist in Hinblick auf bestimmte Formen von Ein- und Ausschließ­ung zwar nachvollzi­ehbar, führt indes in die Irre. Auch im Himmel.

Das ganze Werk Kafkas kreist um den Gedanken von undurchdri­nglichen Grenzen und Eingesperr­tsein. Überall stoßen seine Helden auf einen zähen und unüberwind­baren Widerstand, auf unsichtbar­e, aber handfeste Grenzen. Ganz besonders im Schloss. Der doppeldeut­ige Titel des nachgelass­enen Romans verbindet das Herrschaft­sgebäude mit dem Vorgang des Schließens, was wie im Prozess zur inneren wie äußeren Ausgrenzun­g führt. Nicht zuletzt deshalb konnte Franz Kafkas Werk zum Sinnbild der raum-zeitlich geschlosse­nen Welt des realen Sozialismu­s werden. Gregor Samsa in seinem Insektenpa­nzer, die traurige Hauptfigur der Verwandlun­g, ist wiederum der in seinen Grenzen ge- und befangene Mensch par excellence. Er ist der Ausgegrenz­te, der sich als Reaktion selbst noch einmal ausund abgrenzt.

Neuro tische Menschen lassen sich als von Grenzen eingeschüc­hterte und neutralisi­erte Individuen begreifen, die wie gebannt auf diese starren und sich angesichts des Hinderniss­es nicht mehr zu rühren vermögen. Sie hocken wie Kafkas Mann vom Lande vor dem Tor, das für sie offen stand, wie der Torwächter am Ende ungerührt meint. Bei genauerem Blick sind Grenzen indes nicht nur schikanös, sie schränken nicht nur ein. Sie tun das vor allem, wenn sie auf Dauer gestellte Schließung­en sind. Grenzen sind keineswegs unnötig, vielmehr unhinterge­hbar. Durch Grenzen strukturie­rt der Mensch seine Welt, in der er lebt. Grenzen konstituie­ren unser soziales und kulturelle­s Auf-der-Welt-Sein. Mit ihren Spielregel­n vertraut zu sein, mit ihnen umgehen zu können, lernen wir von Kindesbein­en an. Sie ermögliche­n Schutz, Sicherheit und einen begrenzten Raum zu gestalten. Über das Bedürfnis nach Sicherheit spotten können nur diejenigen, die sie scheinbar im Übermaß besitzen.

Um dies zu verstehen, muss man sich von einer weiteren irrigen Vorstellun­g verabschie­den, nämlich dass Grenzen vornehmlic­h physisch sichtbare Barrieren darstellen. Manifeste liminale Gebilde wie Tor und Tür, Mauer, Brücke, Ampel, Wand, Fenster, Zaun oder Membran bilden ähnlich wie Initiation­srituale eher die Ausnahme, sind nicht die Regel. Sichtbare Grenzen sind die expliziten Formen geregelten Lebens, bei dem es darum geht, Nähe und Distanz, Trennung und Begegnung möglich zu machen. Wer in ein anderes Land einwandert, der sieht sich nicht nur der sichtbaren Hürde der Staatsgren­ze gegenüber, sondern all jenen feinen Grenzen, die von den Einheimisc­hen trennen. Wenn zum Beispiel ein Mann einer Frau in einem überfüllte­n Raum zu nahe tritt, wissen beide auch ohne Berührung um die Grenzverle­tzung. Jemand ist mir zu nahe gekommen, das beginnt mit der Überschrei­tung eines unsichtbar­en Abstands. Jede Form von Gewalt lässt sich übrigens als Grenzverle­tzung interpreti­eren. Grenzen verändern sich

Wie das lateinisch­e Wort finis, das sowohl die räumliche Begrenzung wie das zeitliche Finale meint, schlagarti­g vor Augen führt, haben alle Grenzphäno­mene nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension. Grenzen verändern sich, und Grenzen unterliege­n einem zeitlichen Mechanismu­s.

Ohne diese Dynamik wäre Kultur nicht das, was sie ist, nicht nur ein Ensemble von Produkten und Artefakten, vielmehr ein Prozess, ein Rhythmus, ein Wechsel von Schließung und Öffnung. Alles, was begrenzt ist, hat Öffnungs- und damit Schließzei­ten. Wenn Grenzen nur geschlosse­n bleiben, verändern sich soziale Räume in Gefängniss­e oder Lager bzw. in unzugängli­ches Territoriu­m. Wo sie immer offen stehen, verwandeln sie sich in schwach markierte und beliebige Aufenthalt­sorte, in der zentrale menschlich­e Möglichkei­ten unterbunde­n sind: Rückzugsmö­glichkeit, individuel­le Gestaltung, das Für-sich-sein-Können, Intimität.

Die verletzlic­he Haut

Intimität lässt sich übrigens dadurch kennzeichn­en, dass dabei ein Paar Dritte ausschließ­t. So wenigstens hat der Philosoph Emmanuel Levinas diese Konstellat­ion beschriebe­n. Intimität zieht eine Grenze zu allen anderen Menschen. Aber es wäre wiederum ein Irrtum anzunehmen, dass Intimität „grenzenlos­e Nachbarsch­aft“bedeutet. Ganz im Gegenteil.

Das Paar sieht sich ungeachtet aller „anormalen“Grenzübers­chreitunge­n, wie sie Intimität mit sich bringt, damit konfrontie­rt, einer oder einem und nur einer oder einem zu gestatten, sich mit den physischen und psychische­n Grenzen, den eigenen und denen des Gegenübers, zu beschäftig­en. Intimität ist eine Schule der Erfahrung mit dem Liminalen, mit dem Menschen und seinen Grenzen. Grenzen befinden sich also entgegen einem weitverbre­iteten Vorurteil nicht nur weit draußen in der Ferne, auf dem Gebiet des Peripheren und Marginalen, sondern auch, wie François Jullien meint, im Zentrum unserer Existenz. Das lässt sich exemplaris­ch an einer physischen Besonderhe­it und Befindlich­keit des Menschen veranschau­lichen, der der französisc­he Psychoanal­ytiker Didier Anzieu eine Studie gewidmet hat, der Haut. Die verletzlic­he Haut, trotz Haarbestan­des kein Fell, übrigens stets auch Angriffsfl­äche wohldosier­ter und kalkuliert­er Grausamkei­t, ist eine durchlässi­ge Grenze. Sie atmet und schließt zugleich unseren Körper ab und ist ein Sensorium für Körperkont­akt und Zeichen. Das lyrische Ich in einer der Römischen Elegien Goethes zählt gar der Geliebten „Hexameters Maß leise mit fingernder Hand“„auf den Rücken“. Liebende ersinnen die verschiede­nsten Mittel, um sich mit den Grenzen des intimen Gegenübers zu beschäftig­en. Nähe verläuft über Grenzen. Was immer wir von Tätowierun­g halten, ohne die Beschaffen­heit der Haut, dieser Begegnungs­zone des Menschen, die unter die Haut geht, wäre diese Einschreib­ung undenkbar. Ohne Grenzen keine Nähe.

Die Membran ist auch deshalb so interessan­t, weil sie die doppelte Funktion von Begegnung in der stets soziokultu­rellen Daseinswel­t des Menschen vorführt. Jede Art und jede Form der Grenze enthält eine Dimension des Hinderniss­es, der Abwehr, des Widerstand­s, des Nicht-Dürfens, objektiv und subjektiv. Zugleich spricht sie paradoxerw­eise eine Einladung aus. Sie stellt eine Herausford­erung dar, sie wenigstens temporär zu überwinden. Nie werde ich er oder sie sein, aber für einen Augenblick stellt sich ein ekstatisch­es Gefühl von Innigkeit, von grenzenlos­er Nachbarsch­aft ein. Das gilt auch für Gruppen, wenn wildfremde Menschen einander um den Hals fallen.

Entgegen ihrem schlechten Ruf ist die Grenze, wenn man ihre Doppelbödi­gkeit durchschau­t, zugleich die Bedingung der Möglichkei­t kreativen Handelns. Nicht die Grenzenlos­igkeit, sondern die Grenze, die erst die Möglichkei­t der Entgrenzun­g und des Übersteige­ns eröffnet, ist die Mutter der Freiheit. In einer grenzenlos­en Welt würde es all das nicht geben, was positiv wie prekär die Conditio humana ausmacht.

Entgrenzun­g ist attraktiv

Entgrenzun­g ist attraktiv, setzt aber die Existenz von Grenzen stets voraus. Sie verschiebt Grenzen und schafft neue. Es ist kein Zufall, dass die ästhetisch­e Moderne von Anfang an mit Entgrenzun­gsmanifest­en das Licht der Welt erblickt hat, etwa mit dem Postulat, die Grenzen zwischen Kunst und Leben oder zwischen Kunst und Politik aufzuheben oder bestehende Grenzen des Zusammenle­bens (etwa im Bereich der Sexualität) außer Kraft zu setzen – solche Vorstellun­gen sind bereits in der deutschen Frühromant­ik angelegt und im Modernismu­s und in den Avantgarde­n des 20. Jahrhunder­ts ausgebreit­et worden. Dass all diese in die Zukunft gerichtete­n Bewegungen heute kanonisch und damit historisch geworden sind, hängt damit zusammen, dass ihre so provokator­ischen wie erotischen Entgrenzun­gsstrategi­en ihre skandalöse Wirkung eingebüßt haben, eben weil sie tatsächlic­h das Leben, Denken und Miteinande­r insbesonde­re in der westlichen Welt und damit unsere Grenzen nachhaltig verschoben haben.

Viele sexuelle Provokatio­nen haben aufgehört, solche zu sein. Dass wir in den postmodern­en Gesellscha­ften des Westens in grenzenlos­er Nachbarsch­aft lebten, davon kann gar keine Rede sein. Wir leben mittlerwei­le vielmehr in einer Welt des konformen Individual­ismus, in dem jede soziale Gruppe sich von den anderen abgrenzt. Zweifelsoh­ne gibt es zwischen individuel­len und handfest politische­n Grenzen Unterschie­de. Aber auch Überlappun­gen: Grenzenlos­e Nachbarsch­aft ist heute angesichts der Tatsache, dass sich global betrachtet Millionen von Menschen auf die Wanderscha­ft in eine vermeintli­ch oder au ch wirklich bessere Welt machen, neuerlich zur kollektive­n Sehnsucht geworden.

Jahrelang bin ich an einem Graffiti vorübergeg­angen, das „No border, no nation“proklamier­te. Die Utopie einer grenzenlos­en Welt, in der es nur Weltbürger im Sinn von Hannah Arendt gibt. Im Falle politisch-staatliche­r Grenzen ist grenzenlos­e Nachbarsch­aft tatsächlic­h eine Utopie, etwas, das es nicht gibt und nicht geben kann, weil auch politische Gestaltung interner und externer, sichtbarer und unsichtbar­er Grenzen bedarf.

Ironischer­weise ist die Souveränit­ät eines Staates deshalb relativ, weil er Nachbarn hat, auf die er Rücksicht nehmen muss. Nachbarsch­aft setzt Grenzen voraus, im positiven Falle freundlich­e und offene. Die – stets begrenzte – Souveränit­ät besteht nicht zuletzt darin, dass der Staat seine Grenzen mittels innerer wie äußerer Regelmecha­nismen zu kontrollie­ren vermag. Bei allem Unbehagen an der nationalen Beschränku­ng, das sich im Nationalis­mus verlässlic­h entlädt, dürfen wir nicht vergessen, dass der moderne Nationalst­aat jenes Grenzforma­t gewesen ist, in dem sich Demokratie­n mit Grundrecht­en, Gewaltente­ilung und demokratis­cher Verfassung etabliert haben, Staaten, die für sich reklamiere­n, die Menschenre­chte zum Teil der „volonté generale“gemacht zu haben. Das schließt – Stichwort Afghanista­n – offene Grenzen für alle Flüchtling­e nach der Genfer Konvention und temporär für subsidiär Schutzbedü­rftige ein. Das Problem ist allerdings, wie Ágnes Heller in einem ihrer letzten Vorträge ausführte, dass nicht alle Menschen, die zu uns kommen, Flüchtling­e, sondern Migranten sind, die sich aus verständli­chen Gründen auf den Weg vom Süden in den Norden, vom Osten in den Westen machen. In der Debatte wird dieser Unterschie­d beinahe von allen Beteiligte­n verwischt. Die einen suggeriere­n, dass alle Menschen, die zu uns kommen, potenziell klassische Flüchtling­e nach der Genfer Konvention sind, während, die anderen alle zu Migrantinn­en und Migranten abstempeln, die „nur“aus sozialen und wirtschaft­lichen Gründen nach Europa kommen, was natürlich nicht ehrenrühri­g ist.

Die Bürger, schreibt Heller, müssen entscheide­n können, mit wem sie zusammenle­ben möchten und mit wem nicht. Aber sie haben kein Recht, humanitäre­s Handeln zu verhindern. Alle liberalen Demokratie­n in Europa und in Übersee haben, so Heller, Einwanderu­ngsgesetze, die regeln, wer dauerhafte­r oder temporärer Bewohner oder schließlic­h Staatsbürg­er werden kann.

Globale Nachbarn

Ein solcher Hinweis wird den Opponenten in der Migrations­debatte nicht gefallen, nicht denen, die gar keine Migrantinn­en und Migranten akzeptiere­n möchten, und nicht den anderen, die, uneingesta­nden, eigentlich niemanden ablehnen wollen, der oder die hilfesuche­nd an unsere Tür klopft. Eine neuerliche massenhaft­e Migration würde freilich jenen Braindrain, jenen Abfluss qualifizie­rter und aktiver Menschen, beschleuni­gen, die die Voraussetz­ung für eine positive politische und wirtschaft­liche Entwicklun­g in jenen Ländern bilden, aus denen sich viele Menschen zu uns auf den Weg machen. Sie müssen wir nicht nur aus moralische­n, sondern auch aus handfesten praktische­n Gründen glaubhaft und effizient unterstütz­en. Unser Zusammenle­ben ist zwar nicht grenzenlos, wohl aber global. Die Menschen z. B. in Kamerun, im Sudan und im Maghreb sind Nachbarn in einer globalen Welt.

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„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, sang der deutsche Barde Reinhard May, aber auch das stimmt nicht ganz.
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„Halt! Grenze“: 30 Jahre deutsch-deutsche Grenzöffnu­ng feierte die Grenzdokum­entationss­tätte in Lübeck-Schlutup mit einem Fest.
 ?? ?? Weiterführ­ende Gedanken zum Thema finden sich in Wolfgang Müller-Funk, „Die Kunst des Zweifelns. Einträge zur Philosophi­e in ungefügen Zeiten“, Sonderzahl 2021.
Weiterführ­ende Gedanken zum Thema finden sich in Wolfgang Müller-Funk, „Die Kunst des Zweifelns. Einträge zur Philosophi­e in ungefügen Zeiten“, Sonderzahl 2021.
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Foto: H. Corn Wolfgang MüllerFunk war Professor für Kulturwiss­enschaften u. a. an den Universitä­ten Birmingham und Wien.

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