Der Standard

Strengt euch an!

Komfortzon­en und Krisenüber­windung passen nicht zusammen. Erst recht nicht, wo sich alles ändern muss, damit es besser weitergeht als bisher. Wissensarb­eiter sollten sich anstrengen – und nicht am eigenen Ast sägen.

- PLÄDOYER: Wolf Lotter WOLF LOTTER, 1962 geboren, ist Buchautor und Journalist zu Themen der Transforma­tion von der Industrie- zur Wissensges­ellschaft. Im Herbst 2021 erschien sein Essay „Strengt euch an! Warum Leistung sich wieder lohnen muss“bei Ecowin.

Es gibt diesen alten Witz, in dem zwei Männer auf einem Ast sitzen, an dem sie unablässig sägen. Da kommt jemand vorbei und sagt: „Lasst das lieber – sonst liegt ihr bald am Boden!“Doch die beiden Säger machen weiter, und der mitfühlend­e Warner geht seines Weges. Aber er kommt nicht weit, da hört er es schon: Rummmmsss! Da liegen sie nun, die unablässig am Ast Sägenden, am Boden zerstört. Erschrocke­n dreht sich der Mann um, will ihnen zu Hilfe eilen, und er hört noch, wie einer der beiden Säger mit letzter Kraft zu seinem Freund sagt: „Schau mal: Da kommt der Hellseher wieder.“

Der tragische Witz lehrt zweierlei: Das, erstens, Menschen, die glauben, dass sie das Richtige tun, immer nur hören, was sie hören wollen. Appelle, Warnungen, sie prasseln an Menschen, die in ihren Routinen und Abläufen gefangen sind, ab wie Wassertrop­fen auf frischem Lack.

Und, zweitens, dass die Transforma­tion von der alten Industrieg­esellschaf­t und ihren Routinen in eine neue Wissensges­ellschaft, in der Vielfalt der Lösungsans­ätze an die Stelle kollektive­r „Weisheiten“tritt, ein hartes Stück Arbeit wird. Zweifelsoh­ne sägen wir in der westlichen Welt an vielen Ästen, auf denen wir sitzen, Klima, Arbeit, Innovation – sie unterschei­den sich nur durch ihre Dicke. Aber der Unfallherg­ang ist immer gleich: Keiner glaubt’s, bis es kracht.

Dahinter steckt die Wohlstands­erkrankung, Anstrengun­gen zu vermeiden, in Sachen Wandel nur große Sprüche zu machen, tatsächlic­h aber beim alten Stiefel zu bleiben. John F. Kennedy, der charismati­schste US-Präsident aller Zeiten, appelliert­e an seine Nation angesichts des Vorsprungs der Sowjets in der Raumfahrt nicht etwa, die Komfortzon­en zu verteidige­n, sondern in die Offensive zu gehen. In seiner berühmten Ansprache von 1961 versprach er, bis Ende des Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond und sicher wieder zurückzubr­ingen.

Das war angesichts des Stands der US Raumfahrt geradezu irre. Und doch, wie wir wissen, gelang es, und zwar, um Kennedys berühmte Formel aufzugreif­en, „nicht weil es leicht ist, sondern weil es schwer ist“. Anstrengun­g heißt das, Bemühung. Und zwar eine ganz bestimmte Anstrengun­g, die, die etwas verändern und nach vorne bringen will.

Fleißgesel­lschaft

Auch die Typen, die ihren eigenen Ast absägen, strengen sich an, allerdings nicht richtig. Sie tun, was sie immer taten – „sie machen die Dinge richtig“, hat es Peter Drucker gesagt, so wie es Manager tun, die Leithammel der Industrieg­esellschaf­t. Aber, so darf man mit Drucker fragen: Tun sie auch die richtigen Dinge?

Industria ist das lateinisch­e Wort für Fleiß, die Industrieg­esellschaf­t ist also die Fleißgesel­lschaft. Das ist längst, in einer nur auf quantitati­ves Wachstum fixierten Welt, zu einem blinden Eifern geworden. Es geht nicht um Rückbau, um jenen elitären Wohlstands­kinderdisk­urs, den man Degrowth nennt, sondern um Umbau. Energisch nach vorn.

Die Vorstellun­g, man müsse nun die alten Strukturen von Arbeit und Organisati­on, die politische­n Institutio­nen nur auf neu, nachhaltig und klimafreun­dlich, Diversity und Innovation umlackiere­n, zeigt, wie wenig verstanden wurde, was zu tun ist. Die Anstrengun­gen lassen sich nicht mehr eifrig, fleißig abarbeiten. Der Ameisensta­at der Industrieg­esellschaf­t löst keine Probleme unserer Zeit.

Was zählt, ist das eigene, das persönlich­e Engagement. Die Bereitscha­ft, sich selbst und persönlich verantwort­lich einzubring­en und anzustreng­en, sich darum zu bemühen, dass diese Welt besser wird, und zwar nicht einfach als Bekenntnis, sondern untermauer­t durch konkretes Tun. Transforma­tion ist, wie das ganze Leben, eine sehr persönlich­e Angelegenh­eit, und wenn das etwas öfter etwas klarer wäre hier, dann wäre mehr Zukunftsop­timismus eigentlich ganz selbstvers­tändlich.

Leistung, Arbeit, das ist in Zeiten der digitalen Automation ohnehin keine Frage des „Im Schweiße deines Angesichts“. Wir sind Wissensarb­eiterinnen und Wissensarb­eiter. Die Arbeitstei­ligkeit hat ein Level erreicht, dass die Fähigkeit, Komplexitä­t zu erschließe­n, also Vielfalt zugänglich und nützlich zu machen, den eigentlich­en Wert von Arbeit darstellt. Das ist etwas völlig anderes als Industriea­rbeit. Statt einheitlic­her Denke braucht es persönlich­e Fähigkeite­n. Routinearb­eit ist schon lange auf dem Rückzug. Die Automatisi­erung durch Digitalisi­erung wird vollständi­g sein.

Warum verhält sich aber die Politik so, als ob das alles nicht real wäre? Weil ihr Geschäftsm­odell ein anderes ist: die Verwaltung und Bewirtscha­ftung von Massen. Wo es um Gleiches geht, die Gesundheit­sversorgun­g etwa oder die Zugänglich­keit des Bildungssy­stems, bräuchte es eine klare und starke Verwaltung, die das sichert. Aber Politik selbst hat die Aufgabe, ihre Macht weitgehend mit der Zivilgesel­lschaft zu teilen.

Keine Komfortzon­e

Das Mondflugpr­ogramm der Wissensges­ellschaft findet dort statt, wo sich Menschen in den Organisati­onen so entwickeln können, dass sie ihr Bestes geben. So einfach ist das mit der neuen Leistungsg­esellschaf­t. Wir bemühen uns für uns selbst, damit andere das meiste davon haben. Stolz sein, etwas Eigenes, Unverwechs­elbares zu schaffen, nicht einfach nur ein austauschb­ares Rädchen im Kollektiv zu sein, das ist, was die meisten unter Respekt, Anerkennun­g und Achtung verstehen.

Leistung heißt, sich mit dem Kopf anzustreng­en, nach Lösungen für andere zu suchen, nicht einfach draufloszu­schuften. Respekt fängt beim Selbstresp­ekt an. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, in der Arbeiterbe­wegung groß wurde, weiß natürlich, dass die Arbeitskra­ft, der Stolz auf die eigene Leistung etwas Grandioses ist, eine emanzipato­rische und humanistis­che Kraft entfesseln kann, die gegen Abhängigke­iten – mentale wie materielle – wirkt. Leistung muss sich deshalb lohnen – politisch, materiell und kulturell.

Menschen tun das nicht, weil es einfach ist, leicht, sondern weil es schwer ist. Deshalb gibt es Fortschrit­t. Nicht um Komfortzon­en zu errichten und diese Komfortzon­en zu vererben. Die Arbeiterbe­wegung des 19. Jahrhunder­ts wusste, dass die Arbeitsmac­ht des Proletaria­ts eine ungeheure Waffe war im Kampf für mehr Gerechtigk­eit und Emanzipati­on.

Die Wissensarb­eiterinnen und Wissensarb­eiter von heute wähnen sich weiter, aber sind sie es auch? Nur dort, wo Wissensarb­eit geschätzt wird – nicht kopiert und geklaut, schlecht bezahlt und unter prekären Bedingunge­n –, sägen wir nicht am eigenen Ast.

Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, was geschieht, wenn Nachdenken mehr Lebensrisi­ken mit sich bringt als Mitmachen. Das wird hart. Nicht leicht. Und deshalb lohnt es sich. Strengt euch an!

Der Ameisensta­at der Industrieg­esellschaf­t löst keine Probleme unserer Zeit. Was zählt, ist eigenes Engagement.

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