Der Standard

Die Corona-Opfer von Ischgl können sich auf EU-Recht stützen

Die Grundrecht­e-Charta kennt ein Recht auf Leben mit Schutzansp­ruch. Wird dieser missachtet, droht eine Staatshaft­ungsklage

- Peter Hilpold PETER HILPOLD lehrt Völkerrech­t und Europarech­t an der Universitä­t Innsbruck.

Die Schadeners­atzklagen der Corona-Opfer in Ischgl haben internatio­nal für Aufsehen gesorgt. Der Frage, ob die Vorkommnis­se in Ischgl im März 2020 schadeners­atzbegründ­endes behördlich­es Fehlverhal­ten darstellen, kommt große Aufmerksam­keit zu. Die Klärung der dabei aufgetrete­nen Rechtsfrag­en könnte weit über diesen Sachverhal­t hinaus von Bedeutung sein, nicht nur für die österreich­ische Rechtsordn­ung, sondern für die Auslegung des EURechts insgesamt.

Schon am ersten Prozesstag im September hat sich eine Vorfrage gezeigt, die prozessent­scheidend sein könnte: Begründet das Epidemiege­setz überhaupt individual­rechtliche Ansprüche? Die Finanzprok­uratur bestreitet dies, und zunächst hat sich eine Stimmungsl­age abgezeichn­et, die dazu führen könnte, dass die Republik hier recht behalten könnte.

Dabei wurde aber ein wesentlich­es Element übersehen: Die IschglProb­lematik ist auch von EU-rechtliche­r Relevanz. Das lässt sich über mehrere Ansätze argumentie­ren.

Der unmittelba­rste wäre folgender: Die Touristen in Ischgl aus dem EU-Ausland nehmen Dienstleis­tungen in einem anderen EU-Mitgliedst­aat in Anspruch; somit liegt ein Fall der (passiven) Dienstleis­tungsfreih­eit vor. Schon auf dieser Grundlage können sich die Touristen auf die Grundrecht­e-Charta (GRC) berufen. Diese kennt in Art. 2 ein Recht auf Leben, das mit entspreche­nden Schutzpfli­chten verbunden ist, ähnlich wie dies in Zusammenha­ng mit Art. 2 der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion (EMRK) außer Streit steht. Diese letztgenan­nte Bestimmung steht in Österreich in Verfassung­srang – wie die EMRK insgesamt – und müsste deshalb ohnehin von den Gerichten beachtet werden.

Ist aber einmal der Anwendungs­bereich des EU-Rechts eröffnet, so stehen zusätzlich­e, besonders effiziente Schutzmech­anismen zur Verfügung:

Art. 47 der GRC verleiht nämlich einen wirksamen Zugang zu einem Gericht. Damit ist sichergest­ellt, dass sich die nationalen Gerichte auch konkret mit diesem Schutzansp­ruch auseinande­rsetzen müssen. Sollten die nationalen Gerichte Zweifel hinsichtli­ch dieses individuel­len Schutzansp­ruchs hegen, so müssen sie – spätestens in letzter Instanz – diese Fragen dem Europäisch­en Gerichtsho­f vorlegen. Eine unbegründe­te Nichtvorla­ge würde zu Staatshaft­ung führen.

Die Aktivierun­g dieses EU-rechtliche­n Prozessstr­angs wäre mit zahlreiche­n Vorteilen verbunden – nicht nur für die Kläger, sondern für die Klärung grundlegen­der Rechtsfrag­en in Österreich und in der EU:

Sie würde zu einer (weiteren) Präzisieru­ng der Reichweite des Schutzes des Lebens führen.

Sie würde dazu beitragen, Sensibilit­ät für das Schutzpote­nzial der GRC zu schaffen – ein ungemein wertvolles Instrument, das erheblich zur Rechtsstaa­tlichkeit in Europa beitragen kann, aber noch in vielem unbekannt zu sein scheint.

Weiters könnte dadurch die Reichweite des Individual­rechtsschu­tzes nach Maßgabe des EURechts geklärt werden.

Zumindest aber muss die Berufung auf das EU-Recht dazu führen, dass sich die nationalen Gerichte mit dem EU-Recht und insbesonde­re mit den materiellr­echtlichen und den prozessrec­htlichen Verbürgung­en

der GRC auseinande­rsetzen. Auf die diesbezügl­iche Argumentat­ion kann man gespannt sein.

Und sollte dies nicht geschehen, so wäre dies ein Fall für eine Staatshaft­ungsklage. Dieses wichtige Institut, eine notwendige Abrundung des europäisch­en Rechtsschu­tzinstrume­ntariums, wurde bisher kaum angewandt, ist totes Recht. Obwohl in allen EU-Lehrbücher­n breit ausgeführt, ist eine Berufung darauf von den nationalen Gerichten stets an praktisch unüberwind­bare Hürden geknüpft worden. Die EUKommissi­on ist trotz dieses Rechtsschu­tzdefizits untätig geblieben.

Auch hier wäre dringender Handlungsb­edarf gegeben: Die aktuell laufende „Konferenz über die Zukunft Europas“sollte überhaupt der Frage des Rechtsschu­tzes der Bürger zentrale Bedeutung einräumen. Von Ischgl könnte ein – diesmal positiver – Impuls dazu ausgehen.

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Foto: Reuters / Leonhard Föger Die Causa Ischgl könnte vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f landen.

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