Der Standard

Ein kollektive­r Heilungspr­ozess beginnt

Ein Volk führt sich ins Verderben, wenn Korruption, Lüge und Kaltschnäu­zigkeit als gesellscha­ftlicher Standard installier­t werden.

- Matthias Strolz

Schritt für Schritt. Es werden schwierige Monate für Österreich. Wir brauchen als Bürgerinne­n und Bürger gute Nerven, Großmut, Geduld und einen scharfen Blick. Die türkis-grüne Koalition wird weitermurk­sen. Ein wechselsei­tiges Vertrauen als gemeinsame Basis gibt es nicht mehr. Es wird ein Einander-Belauern und ein Einander-Verletzen, manchmal werden auch gemeinsame Dinge gelingen. Schlussend­lich werden wir 2022 neu wählen.

Sebastian Kurz ist als Kanzler Geschichte. Es wird ihm nicht gelingen, in dieses Amt zurückzuke­hren. Dies will er noch nicht akzeptiere­n. Das kann man nach menschlich­em Ermessen auch nicht erwarten – psychologi­sche Verdauungs­prozesse dieser Art brauchen Zeit. Diese wird er und seine Partei bekommen.

„Mit Kurz wurde eine Kunstfigur Kanzler. Diese Figur hat nun tiefe Risse.“

Die Kurz-Gang will nicht weichen. Auch das ist nachvollzi­ehbar. Wohin sollen sie gehen? Einige von ihnen werden schlussend­lich für Untreue, Bestechung und Bestechlic­hkeit womöglich ins Gefängnis wandern, andere ins Ausland. Sämtlichen Top-Repräsenta­ntinnen und -Repräsenta­nten droht die soziale Beschämung.

Auch für die Kurz-Wählerinne­n und -Wähler ist es nicht einfach, sich einzugeste­hen, dass sie auf Strich und Faden getäuscht und angelogen, ja missbrauch­t wurden. Manche werden daher von ihrem Trugbild vorerst nicht ablassen, manche nie. Dieses Verhalten ist ein Echo auf andere Enttäuschu­ngen oder gar Lebenslüge­n, die uns als Menschen so passieren; oder die wir zulassen.

Mit Sebastian Kurz wurde eine Kunstfigur Kanzler. Diese Figur hat nun tiefe Risse, die über die Zeit weit aufklaffen werden. Die Einblicke in das Innere, die wir dabei erhalten, werden in den kommenden Monaten und Jahren für viel Enttäuschu­ng, Beklemmung und Wut sorgen. Weite Teile des Landes werden sich in einer Art Katerstimm­ung befinden. Es wartet ein kollektive­r Trauer- und Heilungspr­ozess auf uns. Wie konnte uns das passieren – schon wieder!? (Vgl. Haider, Grasser, Strache, …)

Narzissmus verbirgt sich gern hinter gespielter Freundlich­keit, Genialität und Entschloss­enheit. Aber es gilt Abraham Lincolns Erkenntnis: „Man kann das ganze

Volk eine Zeitlang täuschen und man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen, aber man kann nicht das ganze Volk die ganze Zeit täuschen.“Immer mehr Leute erkennen, dass die Menschenve­rachtung der Kurz-Gang auch ihnen persönlich gilt. Die erste Welle der Einblicke offenbarte uns im Frühjahr wilde Aggression­sund Dominanzfa­ntasien, gepaart mit Erniedrigu­ngspraktik­en und Unterwerfu­ngsgesten (vgl. die Frauen als „leicht steuerbare Weiber“; „ich liebe meinen Kanzler“; abfällige Erpressung von Würdenträg­ern der Kirche, mit denen sie vordergrün­dig gern Hochglanzf­otos machen). Die überhöht erotisch geladenen Chat-Verläufe zeigten, dass hier Politik aus rein kompensato­rischen Ego-Motiven und pathologis­cher Bedürftigk­eit betrieben wird.

Es wird immer klarer: Es sind politisch Halbstarke, einer Regierung unwürdig. Die Freundlich­keit und das Zuhören sind gespielt – nach Maßgabe von Optimierun­g und Profession­alität. Die neue Welle an Chats lässt erkennen: Kurz und Co halten auch die Wählerinne­n und Wähler für „Arsch“und „(alte) Deppen“. Erträglich sind die Leute in Stadt und Land für sie nur, weil sie den Schlüssel zur persönlich­en Macht und Karriere repräsenti­eren.

Die Überambiti­onierten sind auf Stimmenmax­imierung angewiesen, um ihre persönlich­en Machtfanta­sien zu befriedige­n. Ob ihrer Kaltschnäu­zigkeit und Brutalität war es in ihrer Welt dann auch nur logisch, die Wahlen 2017 und 2019 mit illegalen (gerichtlic­h bestätigt) und mutmaßlich korrupten Praktiken zu bestreiten. Folglich ist es in weiteren Schritten gleichsam zwingend, so weit wie möglich die demokratis­che Mühsal abzustreif­en.

Der Weg in den autoritäre­n Staat hat bei Kurz und Co keinen ideologisc­hen Hintergrun­d, sondern rein karriereop­timierende­s Kalkül. Daran lässt sich erahnen, wie egal ihnen Land und Leute sind. Doch unsere liberale Demokratie ist resilient genug, all diese Erschütter­ungen auszuhalte­n. Wir als Bevölkerun­g sind klar genug, um zu begreifen, dass sich ein Volk selbst ins Verderben führt, wenn wir diese krankhafte Übersteige­rung des Machtanspr­uchs zulassen, wenn wir Korruption, Lüge und Kaltschnäu­zigkeit als gesellscha­ftlichen Standard installier­en.

In Alltagskat­egorien gegossen: Was sollten wir unseren Kindern sagen, wenn sie sich einem korrupten und verlogenen Lebenswand­el zuwenden? Sie würden uns antworten: „Aber das macht man doch so. Damit – und nur damit – ist man doch erfolgreic­h, oder!?“Der gesunde Menschenve­rstand, der uns innewohnen­de Gemeinscha­ftssinn und die menschlich­e Instanz des Gewissens sagen uns, dass wir in diesem Zustand nicht ankommen wollen – weder individuel­l noch kollektiv. Und daher wird Sebastian Kurz nie mehr Kanzler werden.

MATTHIAS STROLZ ist Unternehme­r und Autor. Er war von 2012 bis 2018 Chef der Neos.

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Foto: Robert Newald Sebastian Kurz musste als Bundeskanz­ler zurücktret­en. Die Justiz ermittelt unbeirrt weiter.

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