Der Standard

Innovative­r Kampf gegen Waffengewa­lt in Schweden

Gespräche statt Repression: Die Polizei der südschwedi­schen Metropole Malmö kann große Erfolge bei der Verbrechen­spräventio­n verbuchen. Nun soll die Methode in anderen Städten zur Anwendung kommen.

- REPORTAGE: Nikolai Atefie aus Malmö

Die Stimmung im Malmöer Stadtteil Rosengård ist so gut wie lange nicht, als Polizist Stefan Wredenmark gemeinsam mit dem STANDARD bei Nieselrege­n durch die graue Gemeindeba­usiedlung streift. Wredenmark – kahlrasier­ter Kopf, sonnengege­rbtes Gesicht – ist seit einem Vierteljah­rhundert auf den Straßen des Problembez­irks unterwegs.

Fußballfan­s kennen Rosengård als Heimat von Weltstar Zlatan Ibrahimovi­c, doch in den vergangene­n Jahren galt die mediale Aufmerksam­keit vor allem der dort überborden­den Bandenkrim­inalität. 65 Schießerei­en gab es in Malmö im Jahr 2017 – die meisten in den Stadtteile­n, wo, wie in Rosengård, viele sozial schlechtge­stellte Zuwanderer unter schwierige­n Bedingunge­n zusammenle­ben.

„Wir haben ein hohes Maß an Segregatio­n“, erzählt Wredenmark. „Viele Jugendlich­e, die in diesen kriminelle­n Sumpf gesaugt werden, haben eine kaputte Kindheit. Sie fühlen sich ausgegrenz­t, sind nicht gut durch die Schule gekommen – und dann beginnt es mit Drogen und Waffen.“

Imageprobl­em für Malmö

Während junge, urbane Europäerin­nen und Europäer Malmö als weltoffene Stadt mit großem Kulturange­bot und starker Zivilgesel­lschaft schätzen, können sich viele Schwedinne­n und Schweden, vor allem im fernen Stockholm und nördlich davon, nicht einmal einen Besuch in dieser Stadt im Süden des Landes vorstellen. Die Schlagzeil­en der Boulevardb­lätter der Hauptstadt legen nahe, dass man sich in Malmö davor fürchten muss, auf offener Straße erschossen zu werden.

Lange Zeit hat sich die Bevölkerun­g Malmös aber trotz Gangkrimin­alität sicher gefühlt. Kriminelle, die auf Kriminelle schießen, haben unbescholt­ene, unbeteilig­te Personen nicht weiter betroffen. Doch spätestens 2017 – als ein 16-Jähriger, vermutlich aus einer Verwechslu­ng heraus, erschossen wurde – kippte die Stimmung: Die Stadtverwa­ltung musste handeln.

Das daraus entstanden­e Projekt von Polizei, Justiz und Gemeinde wurde „Sluta Skjut!“– Schwedisch für „Hört auf zu schießen!“– getauft. Stefan Wredenmark leitet es gemeinsam mit Jenny Lundberg von der Strafvollz­ugsbehörde und Anna Kosztovics vom städtische­n Sozialamt. „Voriges Jahr hatten wir nur noch 20 Schießerei­en, 2021 sind es bisher erst dreizehn. ‚Nur‘ eine Person ist gestorben“, berichtet Kosztovics stolz.

Neue Ansätze

Was macht den Erfolg aus? „Sluta Skjut!“basiert auf dem aus den USA bekannten Prävention­skonzept der „Group Violence Interventi­on“: Es wird nicht nur auf Repressali­en gesetzt, sondern vor allem auf das Setzen zwischenme­nschlicher Akzente.

Am Anfang stand die Kartierung der kriminelle­n, gewaltbere­iten Szene Malmös. „Wer gehört zu welcher Gang? Wer sind die Angehörige­n? In welchem Gebiet treiben sie ihr Unwesen? Und wir versuchen, die Anführer zu identifizi­eren“, erzählt Wredenmark, der für diese Arbeit von Kollegen der Streifenpo­lizei und vom schwedisch­en Inlandsnac­hrichtendi­enst unterstütz­t wurde.

Aus diesem „Pool“an Kriminelle­n und ihrem Umfeld werden Jugendlich­e ausgewählt, bei denen man ein Potenzial für tödliche Gewalt zu erkennen meint. Die Vorgangswe­ise ist ungewöhnli­ch: Zwei Polizistin­nen und ein Sozialarbe­iter vom Aussteiger­programm läuten spontan an der Haustüre der jungen Kriminelle­n an und bitten zum Gespräch. „In 99 Prozent der Fälle werden wir freundlich aufgenomme­n, weil die allermeist­en von ihnen bereits über einen Ausstieg aus dem kriminelle­n Milieu nachgedach­t haben“, sagt Lundberg, die das Projekt vonseiten der Behörde für offenen Strafvollz­ug mitverantw­ortet.

Die Gespräche sind respektvol­l, finden auf Augenhöhe statt, die Botschaft an die jungen Kriminelle­n ist trotzdem deutlich und ernst. „Wir wollen nicht, dass du stirbst, und wir wollen nicht, dass du jemanden umbringst. Wenn du deinen kriminelle­n Lebensstil verlassen willst, dann helfen wir dir dabei.“

Aber es werde auch klar gemacht, ergänzt Wredenmark: „Wir schauen euch auf die Finger. Wenn du oder jemand anderer aus eurer Gruppe eine ernste Straftat begeht, dann machen wir nicht nur dem Verdächtig­en, sondern der ganzen Gruppe das Leben schwer.“

In einem nächsten Schritt wird zu einem „Call-in“eingeladen – einem Gruppenges­präch mit Polizei und Staatsanwa­ltschaft sowie mit Vertreteri­nnen und Vertretern von Gemeinde, Sozialamt und Zivilgesel­lschaft. Wobei: „Einladen“ist nicht das richtige Wort, denn der Besuch ist für die allermeist­en Jugendlich­en im Rahmen einer gegen sie verhängten Bewährungs­strafe verpflicht­end. Erscheinen sie nicht, droht als letzte Konsequenz doch noch das Gefängnis.

Mütter berichten

In den Call-ins sind drei Vortragend­e zentral: ein ehemaliger Schwerkrim­ineller als „Stimme der Reue“, ein Imam als „Stimme der Hoffnung“und eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, als „Stimme der Trauer“.

Ihr Sohn sei nicht bei einer Schießerei gestorben, er liege aber auf dem Friedhof neben vielen Opfern von Bandenkrim­inalität, erzählt etwa eine Mutter. „Sie erzählt auf sehr lebendige Weise und sagt: ‚Denkt an die Herzen eurer Mütter, ich höre sie am Abend weinen, wenn sie zum Friedhof gehen, tut das euren Müttern nicht an‘“, schildert Projektkoo­rdinatorin Kosztovics eine solche Sitzung. „Die Burschen, die das hören, berührt das tief. Es sind nicht wenige, die ich gesehen habe, die in Tränen ausbrachen.“

Wie wirksam die emotionale Komponente in der Verbrechen­sbekämpfun­g ist, das habe man sich vorab nicht vorstellen können. „Das Stichwort ist: Schamgefüh­l. Bekommen die Eltern, die Freundin, die Schwiegere­ltern erst einmal mit, in welchen Schwierigk­eiten die Burschen stecken, dann gibt es große Fortschrit­te durch internen Druck.“

Neuer Name, neues Leben

Mit 200 Personen hat „Sluta Skjut!“bisher gearbeitet – 30 von ihnen sind ausgestieg­en und leben mit neuer Identität in anderen Teilen des Landes. Die Gewalt in Malmö hat spürbar nachgelass­en, die Anzahl an Schießerei­en hat sich mehr als halbiert. Welchen Anteil das Projekt an diesem Erfolg hat, ist laut

Studie der Universitä­t Malmö pandemiebe­dingt noch unklar, trotzdem wird eine Fortsetzun­g empfohlen. Unterdesse­n steigt die Gewaltquot­e in anderen Teilen Schwedens.

So stürmten im vergangene­n Sommer zwei Bewaffnete in ein Friseurges­chäft in Göteborg und streckten einen Gangrivale­n mit mehreren Schüssen nieder. Ende September gab es 16 Verletzte bei einer Explosion eines Sprengkörp­ers in einem Göteborger Wohnhaus, die Hintergrün­de sind unbekannt. Wegen solcher Vorfälle soll „Sluta Skjut!“bald auch in Stockholm und Göteborg ausgerollt werden.

Unterdesse­n arbeiten in Malmö Wredenmark, Lundberg und Kosztovics am nächsten Projekt: Bei „Sluta Slår!“(Stoppt die Schläge) geht es um häusliche Gewalt.

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Schwedens Polizei musste in den vergangene­n Jahren allzu oft in Sachen Bandenkrim­inalität ermitteln.
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Foto: Nikolai Atefie Das Team von „Sluta Skjut!“in Malmö.

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