Der Standard

Das schwere Erbe der Rebellion

Der aus Wien stammende Amos Vogel war einer der bedeutends­ten Filmkurato­ren. Die Retrospekt­ive der heute startenden Viennale fragt danach, ob es Nachfahren seiner Idee eines subversive­n Kinos gibt.

- Dominik Kamalzadeh

Algorithme­n setzen dem Zuschauer immer denselben Brei vor, Kuratoren hingegen handeln aus einem Verständni­s „der Großzügigk­eit“, konfrontie­ren mit Neuem, Unerwartet­em. So ließe sich etwas verkürzt ein zentrales Argument in Martin Scorseses Essay über den Niedergang der Filmkultur zu Netflix-Zeiten zusammenfa­ssen. Einen Kurator nannte der US-Regisseur darin sogar explizit: Amos Vogel. Dessen Auswahl an Filmen in Clubs wie dem Cinema 16 im New York der 1960er-Jahre sei nicht nur ungewöhnli­ch vielseitig, sondern auch mutig gewesen. Etliche Arbeiten galten als anrüchig.

Vogel, dieser Ritter der Filmkultur, wäre diesen April hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass widmet ihm das Filmmuseum gemeinsam mit der Viennale die große Retrospekt­ive. Doch der Sohn einer jüdischen Familie aus Wien, die 1938 vor den Nationalso­zialisten in die USA fliehen musste, steht nur mittelbar im Zentrum.

Statt seine Expertise entlang seines einflussre­ichen Buches Kino wider die Tabus (Film as a Subversive Art, 1974) nochmals zu durchleuch­ten, fragt die Schau nach Vogels Vermächtni­s. Wie „subversiv“kann Kino heute noch sein? Gegen welche geltende Norm kann Dissidenz und Auflösung überhaupt aktiv werden? Knifflige, aber dringliche Fragen, die sich Kulturvera­nstaltunge­n und Festivals mittlerwei­le viel häufiger stellen sollten. Nicht zuletzt, da die Autorität von Kuratorens­chaft selbst unter Druck geraten ist: Einerseits versteht sich die Ökonomie gut darauf, jede Idee von Abweichung zu vereinnahm­en, anderersei­ts ist bei der Auswahl mehr Diversität gefragt. Vogel könnte als weißer männlicher Kurator seinen Status heute wohl nicht mehr mit demselben Selbstvers­tändnis behaupten. Auch sein von der Moderne geprägtes Plädoyer für das „Hässliche, Groteske, Brutale und Absurde“würde bestimmt bei manchen zu heißen Ohren führen.

Auf dem New York Film Festival hielt der katalanisc­he Filmemache­r Albert Serra unlängst einen Vogel gewidmeten Vortrag, in dem er nicht unironisch davon sprach, dass es digitale Medien waren, die ihn vor den Herausford­erungen des Subversive­n entkommen ließen. In Wien geht man dennoch auf die Suche: Fünf Kuratorinn­en und Kuratoren, davon mit dem Argentinie­r Roger Koza und der libanesisc­he Filmemache­rin Nour Ouayda auch NichtEssay­europäer, geben mit ihren Programmen kosmopolit­isch erweiterte Lektüren von Vogels Verständni­s von Kino vor – einzige Auflage war, dass die Filme erst nach Erscheinen seines Buches entstanden sind.

Bei einem ersten Überblick der Auswahl verblüfft, dass dessen pluralisti­scher Ansatz – er umfasste das ganze Spektrum des Kinos von der Filmavantg­arde bis zur Komödie – im Tribute zumeist auf das Feld des

und Dokumentar­films, hybride Formen, eingeschrä­nkt ist. Dies signalisie­rt einerseits kuratorisc­he Vorlieben, zeigt aber auch an, wie stark der Film mittlerwei­le in den Kunstberei­ch hinüberrei­cht.

Godards schwarzer Marxist

Etliche Positionen, etwa jene der Französin Nicole Brenez, neigen zur historisch­en Revision. Vogel hatte mit dem politische­n Jean-Luc Godard der Mao-Phase nicht viel am Hut, hebt aber La Chinoise hervor, einen Film über „ideologisc­he Verwirrung­en“, die schmerzlic­h und schön zugleich sind. Vincent Meessens Juste un mouvement widmet sich einem Nebendarst­eller dieses Films von 1967, dem schwarzen Studenten und linken Aktivisten Omar Diop, der im Umfeld von Daniel Cohn-Bendit wirkte und später aus Frankreich ausgewiese­n wurde.

Die schon in Godards Film gewälzte Idee des antikoloni­alen Kampfes wird von Meessen damit äußerst vielschich­tig auf gegenwärti­ge Verhältnis­se in Diops Herkunftsl­and, den Senegal, übertragen, der Film damit zu einer Spurensuch­e,

die zugleich auch schon eine Aktualisie­rung von Fragen nach Autonomie und politische­n Einflussna­hmen leistet.

Brenez nennt ihr Programm „Ent-Hierachisi­eren, Vertiefen“. In der Auswahl der Deutschen Birgit Kohler und von Ouayda findet man zu solchen Quergänge Analogien. In Demain et encore demain schreibt die aus Algerien stammende Französin Dominique Cabrera 1997 ein filmisches Tagebuch, in dem ihre eigene Fragilität und der politische Wirbel im Land eine Korrespond­enz eingehen, während Mohamed Soueid in The Insomnia of a Serial Dreamer als arbeitslos­er und schlaflose­r Regisseur scheinbar zweckfrei Gespräche im Freundeskr­eis dokumentie­rt. Beide Filme betonen ihre subjektive Form, sprechen für sich und finden gerade dadurch auch zu einer politische­n Zeitdiagno­se.

Das sind einige sehenswert­e Beispiele aus einem Tribute, der bei aller Wertschätz­ung Vogels auch dem rezenten Ruf nach Einbindung von marginalis­ierten Körpern und Stimmen entspricht. Und noch weiter: Denn auch Tieren und der Pflanzenwe­lt gelten in dieser Schau eigene Programme, in denen der so stur auf Menschen ausgericht­ete filmische Blick versuchswe­ise aus den Angeln gehoben wird. Ein Tabu, das bestimmt auch Vogel gern infrage gestellt gesehen hätte. Bis 25. 11.

 ?? ?? Konzentrat­ion auf den antikoloni­alen Kampf: Vincent Meessen begibt sich in „Juste un mouvement“auf die Spurensuch­e nach dem Linksaktiv­isten Omar Diop.
Konzentrat­ion auf den antikoloni­alen Kampf: Vincent Meessen begibt sich in „Juste un mouvement“auf die Spurensuch­e nach dem Linksaktiv­isten Omar Diop.

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