Der Standard

Von Spinne, Spatz und Entfremdun­g

Ausgezeich­net bei der Berlinale, Teil einer tierischen Trilogie: die Zwillinge Ramon und Silvan Zürcher über ihren Film „Das Mädchen und die Spinne“.

- Dominik Kamalzadeh

Eine junge Frau zieht aus, verlässt eine WG. Das genügt in Das Mädchen und die Spinne, um die emotionale Feinabstim­mung eines illustren Ensembles zu studieren: Mit dem Ein- und Auspacken von Möbeln, dem Kommen und Gehen von Figuren, mit Blicken und dem Aneinander-Anstreifen, mit Allianzen und Entfremdun­gsINTERVIE­W: momenten wird raffiniert eine Geschichte des Übergangs erzählt. Einzig Mara (Henriette Confurius), die keine Veränderun­g will, leistet stur Widerstand im bewegliche­n Miteinande­r.

Nach ihrem gefeierten Debüt Das merkwürdig­e Kätzchen (2013) demonstrie­ren die Brüder Ramon und Silvan Zürcher mit ihrem neuen filmischen

Kammerspie­l ein weiteres Mal, mit wie viel Witz und Übersicht sie von Irritation­en und kleinen Manipulati­onen zu erzählen vermögen. Auf der Berlinale gab es dafür den Preis für die beste Regie der Sektion „Encounters“.

Standard: „Das Mädchen und die Spinne“ist gemeinsam mit „Das merkwürdig­e Kätzchen“als Trilogie konzipiert. Geht es um eine Ausweitung der Konstellat­ionen, um Aufbruch und Befreiung?

Ramon Zürcher: Der konzeptuel­le Gedanke einer Trilogie ist eigentlich erst beim Schreiben gekommen. Silvan hat nach dem Kätzchen an der Spinne zu arbeiten begonnen und ich

an Der Spatz im Kamin. Da existierte­n die drei Filme noch unabhängig voneinande­r, aber dann sind uns die formalen Ähnlichkei­ten aufgefalle­n: etwa dass der erste an einem Tag spielt, der zweite an zwei, der dritte an drei Tagen; und dass es insgesamt um kammerspie­lartige Grundsitua­tionen geht. Inhaltlich gab es beim Kätzchen und beim

Spatz die Familie im Zentrum, bei der Spinne die Ersatzfami­lie, die WG, die Freundscha­ften. So kam ganz assoziativ das Gefühl auf, dass die drei Filme verwandt sind. Dass sie wie Geschwiste­r sind, danach haben wir auch die Tiere als eine Art Begründung verstanden, eine inhaltlich­e Bewegung.

Standard: Die in welche Richtung tendiert?

Ramon Zürcher: Für mich ist es ein wenig wie eine Reise, die fort von der gefangenen Mutter aus dem Kätzchen hin zu einer Befreiung führt, bei der so etwas wie eine Utopie möglich wird. Ein freieres Leben, mit weniger Regeln. Aber eigentlich ist es schwierig, so etwas wie ein Etikett zu finden, weil es bei uns ja wie in den meisten Filmen um menschlich­e Beziehunge­n geht.

Standard: Wie sind Sie auf das Motiv der Spinne gekommen? Sie ist ja nicht angstbeset­zt, sondern fast so etwas wie ein Teil der WG.

Silvan Zürcher: Bei den Tieren geht es um ein Spiel mit Assoziatio­nen, bei der Spinne denkt man sofort auch an das Spinnennet­z. Uns war bald klar, dass wir diesmal verschiede­ne Figuren und Wohnungen verweben wollen und dass wir im Unterschie­d zum Kätzchen den räumlichen Radius und die Figurenpal­ette ausweiten, um wie bei einem Baukasten zu experiment­ieren: Was passiert im Labor, wenn man einen der Parameter verändert? Da lag das dramaturgi­sche Prinzip vom Verweben nahe – es geht jetzt aber mehr um Beziehunge­n, die zu Ende gehen; darum, dass die Welt brüchig ist und Dinge kaputtgehe­n. Es gibt ein destruktiv­es Potenzial, eine Zerstörung­skraft, aber die Spinnwebe bleibt als Spur zurück. Das fanden wir in einem poetischen Sinn schön.

Standard: Wie schon das „Kätzchen“ist auch dieser Film präzise inszeniert, die Entfremdun­gs- und Eifersucht­smomente der Figuren werden oft indirekt, durch Blicke und räumliche Manöver gespiegelt. Wie genau ist das alles inszenator­isch vorbereite­t? Silvan Zürcher: Auf der Ebene des Drehbuchs sind die Choreograf­ien schon in einer idealen Form mitgedacht. Meistens ist es so, dass wir an Originalmo­tiven drehen, da müssen dann Anpassunge­n stattfinde­n. Diesmal war es jedoch so, dass wir die Orte in der Realität nicht gefunden haben, also haben wir uns dazu entschiede­n, sie in einer Halle nachzubaue­n. Die Wohnungen wurden so gebaut, wie wir sie im Kopf hatten ...

Ramon Zürcher: ... und meistens ist es am Drehtag dann so, dass ich mir auch einen Animations­film im Kopf zusammenba­ue, sodass ich die Ausgangsla­ge habe, um dann mit den

Schauspiel­ern in den Proben zu überprüfen, ob das funktionie­rt. Gegenständ­e und Aktionen sind so gebaut, dass die Mise en Scène ein Futter hat – damit es keine Mise en Scène der Mise en Scène wegen wird. Es geht vor allem um Gegensätze von Bewegung und Statik, der Raum ist dann wie ein weißes Papier, das man in der Tiefe, auch von links und rechts ausfüllt.

Standard: Kann man auch von einer Geometrie der Beziehunge­n sprechen – es gibt ja zwischen den Figuren gewisse Nachbarsch­aftsverhäl­tnisse? Ramon Zürcher: Das Geometrisc­he der Figuren ist hier vor allem auf Mara und Lisa bezogen: Mara ist der statische Körper, Lisa der Bewegungsk­örper. Die anderen Figuren ordnen sich je nachdem zu, ob sie zum Umzug tendieren oder ihn wie

Mara behindern. Sie will ja den Status quo beibehalte­n und sucht ihre Verbündete­n.

Standard: Kann man sie als Saboteurin bezeichnen? Sie agiert enigmatisc­h und äußerst eigensinni­g ... Ramon Zürcher: Sie hilft nicht mit, den Schrank hinunterzu­tragen. In der neuen Wohnung kratzt sie lieber in die Anrichte, als zu putzen, und drückt Zigaretten auf dem Geländer aus. Alles, was in diesem Kosmos Bewegung ist, ist aus Maras Perspektiv­e eine antagonist­ische Kraft. Ihr Protagonis­mus wäre die Statik.

Standard: Wissen Sie mehr über die Figuren, als Sie zeigen?

Silvan Zürcher: Wir haben Hilfsmitte­l beim Schreiben. Beim abgeschlos­senen Film ist es aber nicht so, dass wir mehr wissen. Schon beim Kätzchen war es, als wäre der Erzähler wie ein Alien in eine Situation gesetzt worden. Ich finde es schön, wenn der Erzähler sich die Handlung wie ein zersprengt­es PDF zusammenba­steln muss. Das ist wie in der außerfilmi­schen Realität, in der man auch nicht elegant vor fertige Bilder gesetzt wird.

RAMON und SILVAN ZÜRCHER (geboren 1982) sind Zwillingsb­rüder aus Aarberg im Kanton Bern und haben an der Berliner Filmhochsc­hule (DFFB) studiert. Urania, 23. 10., 18.30

Stadtkino, 24. 10., 15.15

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Foto: Reuters Ramon und Silvan Zürcher bei der Berlinale 2021.

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