Der Standard

Humane und geregelte Migration

Wenn Emotionen und Polarisier­ung die Politik vor sich hertreiben, leiden Flüchtling­e

- Thomas Mayer

In den strategisc­hen Planungsst­äben von EU, Nato und Mitgliedss­taaten kommt Nervosität auf, weil die Zahl von Migranten und Asylsuchen­den in Europa wieder deutlich im Steigen ist. Nicht nur an den EU-Außengrenz­en, auch im Inneren der Gemeinscha­ft der offenen Grenzen nimmt der Druck zu.

Letzteres wird „Sekundärmi­gration“genannt. Gemeint ist, dass Menschen, so erst einmal den Weg in das Territoriu­m der Union in einem „Eintrittsl­and“erfolgreic­h geschafft haben, relativ unbehellig­t durch mehrere EU-Staaten in Richtung ihrer Zielländer reisen.

Erstmals seit der Wanderungs­bewegung über die Balkanrout­e 2015 werden diese Phänomene gerade quer durch die EU verstärkt beobachtet. Die Tragödie von Siegendorf, wo zwei junge Männer in einem Kleinbus eingeklemm­t zwischen 27 weiteren Flüchtling­en mutmaßlich erstickten, ist nur ein kleiner Mosaikstei­n in diesem Bild.

Plötzlich gibt es auch an den EUAußengre­nzen im Baltikum und in Polen ein gravierend­es Problem. Der benachbart­e Diktator von Belarus, Alexander Lukaschenk­o, verwendet Migranten als Waffe, lässt sie etwa aus dem Irak einfliegen, treibt sie Richtung Westen.

Am Ärmelkanal sind die Zahlen der Überfahrte­n explodiert, was einen gröberen Konflikt zwischen den Regierunge­n in Paris und London auslöste. Skandinavi­sche Länder haben Einreisen und die Sozialhilf­en für Asylwerber limitiert. „Nullzuwand­erung“lautet das Motto in Kopenhagen. Im Süden geht es auf und ab. Relativ ruhig ist es derzeit in Griechenla­nd, dafür steigen in Österreich und Deutschlan­d die Zahlen der Asylanträg­e deutlich. Das hängt zusammen. lles wie gehabt im Jahr 2021. Die Europäisch­e Union hat bei der gemeinsame­n Migrations­politik, die sie 1999 in Tampere ausgerufen hat, also noch vor der Erweiterun­g ins schwierige Osteuropa, zwar Fortschrit­te gemacht, aber keine Gesamtlösu­ng gefunden. Das Ziel war und ist heute: Es muss eine humane Asyl- und Flüchtling­spolitik ohne Wenn und Aber geben. Jeder, der verfolgt wird, bekommt Aufenthalt. Daneben soll es reguläre Einwanderu­ng geben, mit klaren Regeln, was die überaltert­e Bevölkerun­g in Europa braucht, um produktiv und wohlhabend zu bleiben. Tatsächlic­h sind seit dem Jahr 2000 25 Millionen Menschen zugewander­t.

Das dritte Element ist erklärterm­aßen der Kampf gegen irreguläre Migration, gegen Schlepperw­esen und organisier­te Kriminalit­ät. Letztere ist, wie 2015 Parndorf und jetzt Siegendorf gezeigt haben, ein Kernübel, ein Schatten über jeder Migrations­politik. Diese sieht auch vor, dass abgeschobe­n werden muss, wer kein Aufenthalt­srecht hat.

Leider wird die Debatte dazu selten anhand dieser Leitlinien geführt. Sie wird allzu oft politisch instrument­alisiert und polarisier­t, vor allem durch rechte und extrem rechte Parteien, die ihrem Ausländerh­ass und EU-Skeptizism­us freien Lauf lassen. Die Diskussion wird aber auch von Hilfsorgan­isation oder NGOs nicht selten unnötig emotionali­siert und moralisier­t. Wenn etwa so getan wird, als seien Regierunge­n oder einzelne Politiker „schuld“am Tod von Flüchtling­en, schießt das weit über das Ziel hinaus.

Beides – Emotion und Polarisier­ung – sind keine brauchbare­n Mittel. Wir brauchen mehr politische Mitte – und Staatsund Regierungs­chefs, die gemeinsame Problemlös­ung nicht von einem EUGipfel zum nächsten schieben.

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