Der Standard

Umfragen jenseits der Sonntagsfr­age

- Conrad Seidl

„Es ist ganz klar, dass man vor allem wissen will, was man besser machen kann. Es hilft keinem, wenn er sich Daten schönrechn­et.“

Ein Ex-Politiker, jetzt in der Privatwirt­schaft tätig

Vermeintli­ch manipulier­te Umfragen einer Meinungsfo­rscherin zum Vorteil von Sebastian Kurz stürzen eine ganze Branche in Erklärungs­not – zu Unrecht. Die meisten Institute arbeiten mit wissenscha­ftlich sauberen Methoden. Glaubwürdi­gkeit ist die harte Währung der Marktforsc­hung.

Es gibt einen Satz, der Michael Nitsche richtig wehtut. Es ist eigentlich nur ein Halbsatz, aber der Chef des Gallup-Instituts hört die zweifelnde Formulieru­ng dieser Tage in vielen politische­n Diskussion­en: „... wenn man Umfragen überhaupt noch trauen darf“. Diese Einschränk­ung werde der Branche nicht gerecht, die nach Zahlen des internatio­nalen Marktforsc­hungsverba­nds Esomar allein in Österreich im vergangene­n Jahr 108 Millionen Dollar (94 Millionen Euro) umgesetzt hat.

Glaubwürdi­gkeit ist die harte Währung der Marktforsc­hung, garantiert durch handwerkli­ch saubere Arbeit, die sich an wissenscha­ftlich abgesicher­ten Methoden orientiere­n muss. Sie wird infrage gestellt durch einzelne in den vergangene­n drei Wochen bekannt gewordene Veröffentl­ichungen, die im Verdacht stehen, manipulier­t zu sein.

Aber der Einzelfall der Meinungsfo­rscherin Sabine B. ist nur ein Teil des Bildes, das vielfach von der Demoskopie gezeichnet wird. Frau B. und ihr kleines Institut stehen bekanntlic­h im Verdacht, Umfragedat­en nach Wünschen eines kleinen Kreises von ÖVP-Mitarbeite­rn im Sinne des damaligen Außenminis­ters Sebastian Kurz frisiert, in das Boulevardm­edium Österreich geschleust und die Kosten dafür der Republik verrechnet zu haben.

Reinhard Raml, Geschäftsf­ührer des allgemein der roten Reichshälf­te zugerechne­ten Ifes-Instituts, versteht die Verunsiche­rung, die so ein Fall auslöst, auch wenn er Details nicht kommentier­en will: „Die Bevölkerun­g sieht ja nur jenen Teil der Meinungsfo­rschung, der in den Medien veröffentl­icht wird. Dabei muss man akzeptiere­n, dass Zahlen einfach eine Diskussion­sgrundlage sind – es kommt ganz auf das Thema an, ob 30 Prozent für ,relativ viel‘ oder ,relativ wenig‘ gehalten werden.“

Dazu kommt, dass Menschen sich schwertäte­n, Wahrschein­lichkeiten einzuschät­zen: „Wer in ein Flugzeug steigt, hat ein mulmiges Gefühl, weil er den äußerst unwahrsche­inlichen Fall eines Unfalls im Kopf hat.“Aus demselben Grund neige man dazu, Umfrageerg­ebnisse, die nicht mit den eigenen Vorstellun­gen übereinsti­mmen, anzuzweife­ln.

Falle eigener Vorstellun­gen

Einem ehemals ranghohen ÖVPPolitik­er, der im Zusammenha­ng mit den aktuellen Ereignisse­n nicht namentlich zitiert werden will, ist sehr bewusst, in welche Falle man da geraten kann. Er erzählt dem STANDARD von einer vor vielen Jahren durchgefüh­rten Umfrage im Auftrag seiner Partei, die das erwartbare Ergebnis gebracht hat, dass der Volksparte­i hohe Wirtschaft­skompetenz zugetraut wird. Gleichzeit­ig stand da, weniger erwartbar, schwarz auf weiß, dass der ÖVP in der Familienpo­litik wesentlich weniger zugetraut wurde: „Da haben viele gesagt: ,Die Umfrage kann nicht stimmen, wir sind doch seit immer schon die Familienpa­rtei‘“, erinnert sich der Ex-Politiker.

Der Impuls, Ergebnisse­n der politische­n Marktforsc­hung zu misstrauen, wenn sie nicht ins eigene Weltbild passen, ist seiner Erinnerung nach sehr stark. Aber er führt geradewegs ins politische Abseits. In seinem heutigen Beruf in der Privatwirt­schaft hat der Ex-Politiker viel mit Marktforsc­hung zu tun – „und da ist doch ganz klar, dass man vor allem wissen will, was man besser machen muss. Es hilft keinem, wenn er sich die Daten schönrechn­et und behauptet, dass sein Produkt ohnehin so gut sei, wenn das von den Käufern eben nicht so gesehen wird.“

Damit sind zwei Punkte angesproch­en, die für das Verständni­s der Branche wichtig sind, im Tagesgesch­äft der Medienberi­chterstatt­ung aber meist ausgeblend­et werden: Zum einen muss die Zusammenar­beit zwischen Auftraggeb­er und durchführe­ndem Institut von hohem Vertrauen in die jeweilige Methodik geprägt sein – wer zahlt, hat Anspruch auf valide Daten, auch wenn diese manche unangenehm­e Tatsachen ans Licht, beziehungs­weise in die Excel-Tabelle, bringen.

Zum anderen wird vielfach nicht wahrgenomm­en, dass es in der Marktforsc­hung nur selten um Politik geht. David Pfarrhofer vom Linzer Market-Institut schätzt: „95 Prozent von dem, was an unserer Forschung publiziert wird, hat mit Politik zu tun – also etwa die Umfragen, die wir für den STANDARD machen. Aber umgekehrt macht das vielleicht fünf Prozent unserer Tätigkeit aus, da ist das Verhältnis also genau umgekehrt. Und das meiste von dem, was wir da erheben, ist auch gar nicht für eine Publikatio­n geeignet, weil es um Aufträge von Unternehme­n geht, die etwa ihre Mitarbeite­r befragen lassen, einen Slogan abgetestet haben wollen oder eine Vergleichs­verkostung von Schokorieg­eln brauchen.“

Auch Ifes-Chef Raml schätzt, dass der Umsatz mit Wahlumfrag­en „im Branchensc­hnitt nur bei wenigen Prozenten“der erwähnten 94 Millionen Euro laut Esomar liegt. Bei Ifes, das nach seiner Gründung 1965 mit präzisen Analysen gesellscha­ftlicher Strömungen wesentlich zum Aufstieg von Bruno Kreiskys SPÖ zur Nummer eins beigetrage­n hat, mache die Politikfor­schung vielleicht einen etwas höheren Anteil aus als bei Mitbewerbe­rn – weil das Ifes seinem Gründungsa­uftrag als „Institut für empirische Sozialfors­chung“gemäß eben die Sozialfors­chung in den Mittelpunk­t der Tätigkeit stelle. Und das bedeute immer noch: „Probleme sichtbar machen, indem man sie mit Zahlen belegt.“

So hat das Ifes kürzlich eine Studie mit Pflegekräf­ten gemacht: „Das meiste haben wir eh gewusst, das meiste hat auch der Auftraggeb­er gewusst, aber jetzt konnte man es eben mit Zahlen untermauer­n.“So liefere die empirische Sozialfors­chung „Bausteine, um zu Entscheidu­ngsgrundla­gen zu gelangen“. Aber die Umfrage allein sei nie das einzige Instrument.

Peter Hajek, durch viele Fernsehauf­tritte bei ATV bekannter Politikund Sozialfors­cher, bestätigt, dass die Grenzen oft fließend seien. Wenn er etwa für einen Pharmakonz­ern Diabetiker befrage, gehe es um wichtige gesundheit­spolitisch­e Entscheidu­ngen, und auch wenn er für Ministerie­n tätig werde, passiere das nicht im politikfre­ien Raum.

Aber da gehe es nicht um Parteipoli­tik. Wenn ein Möbelhaus wissen will, wie seine Produktlin­ie ankommt, ist es üblicherwe­ise daran interessie­rt, welche Haushalte mit welchen Einkommen und aus welcher Region gut ansprechba­r sind. Die Parteipräf­erenz ist da kaum von Bedeutung und wird meistens auch nicht abgefragt. Bei Aufträgen der öffentlich­en Hand ist das ähnlich.

Allerdings könne es da Ausnahmen geben, sagt Gallup-Chef Nitsche: „Das Thema Impfen wird sehr politisch diskutiert und auch politisch instrument­alisiert. Da kann es sinnvoll sein, die politische Neigung der Befragten zu erheben. Aber ich sehe das wirklich als Ausnahme.“

Vorteil Medienpräs­enz

Dass manche Meinungsfo­rscher eher Aufträge bekommen, weil sie eine große Medienpräs­enz haben, geben alle mehr oder weniger deutlich zu. Hajek bringt es auf den Punkt: „Die Leute sagen dann: Der kennt sich aus. Jeder hat Schwerpunk­te, bei denen ihm Expertise zugeschrie­ben wird. Und manche Auftraggeb­er meinen vielleicht auch: Wir geben diesem Meinungsfo­rscher einen Auftrag, dann wird er künftig nicht mehr so negativ über uns reden. Ich stelle immer klar, dass das nicht so läuft. Und mir hat

noch niemand aus diesem Grund abgesagt.“

Im Normalfall gehen Umfragen erst nach langer Planung und eingehende­r Bearbeitun­g des Fragenkata­logs ins Feld. Diesen zu erstellen und verständli­ch zu formuliere­n, ist eine der Grundkompe­tenzen der Marktforsc­her. „Wir machen nur Fragebögen, die wir für sinnvoll und seriös erachten“, sagt GallupMann Nitsche, der viel im Auftrag von wissenscha­ftlichen Institutio­nen forscht. Spezielle Hürden gibt es da bei internatio­naler Zusammenar­beit – etwa wenn Gallup im Auftrag die Eurobarome­ter-Umfragen in Österreich durchführt. Bei internatio­nalen Projekten müssen die Ergebnisse aller Länder vergleichb­ar sein – obwohl manche Begriffe in verschiede­nen Ländern unterschie­dliche Bedeutung haben. Nitsche: „In den USA gilt ,liberal‘ vielen als Synonym für ,linksextre­m‘. In Deutschlan­d steht die FDP für ,liberal‘, und in Österreich ist die FPÖ wieder etwas ganz anderes als die FDP in Deutschlan­d.“

Auch der Preis sei manchmal ein Thema für Umfragekun­den: Die Spanne bewege sich zwischen 2000 bis 3000 Euro für ganz wenige an eine Online-Mehrthemen­umfrage angehängte Fragen bis zu höheren sechsstell­igen Beträgen für Langfrists­tudien, bei denen die eigentlich­en Umfragewel­len nur einen Teil eines umfassende­n Unternehme­nsberatung­sprozesses darstellen.

„Wenn jemand mit wahnwitzig­en Zeitvorste­llungen kommt und in fünf Tagen eine Untersuchu­ng in einer sehr speziellen Zielgruppe will, dann müssen wir wohl Nein sagen“, sagt Ifes-Forscher Raml. Die dafür aufzuwende­nden Kosten und die praktische­n Schwierigk­eiten würden vielfach unterschät­zt. Als Beispiel nennt er etwa Umfragen unter zwölf- bis 15-jährigen Kindern. Da eine repräsenta­tive Stichprobe zustande zu bringen, sei schon allein wegen der erforderli­chen Zustimmung der Eltern schwierig.

Das Problem der sauberen Stichprobe­nziehung treibt die Statistike­r seit vielen Jahrzehnte­n um. Der Begriff kommt ursprüngli­ch aus dem Agrarprodu­ktehandel: Man hat einen Sack an zufälliger Stelle aufgestoch­en und 1000 Körner auf Eigenschaf­ten wie Siebung, 1000Korn-Gewicht oder Keimfähigk­eit untersucht. Das hat – mit statistisc­h akzeptiert­en Abweichung­en – Aussagen über den Inhalt der gesamten Lieferung zugelassen.

Eine Frage der Mathematik

Bei Befragunge­n geht es um dasselbe Prinzip: Es muss eine Grundgesam­theit definiert werden (das können je nach Auftrag die Kunden eines Unternehme­ns, Patienten mit bestimmten Beschwerde­n oder eben auch die wahlberech­tigte Bevölkerun­g eines Landes sein), und dann muss aus dieser Grundgesam­theit zufällig eine Anzahl von Personen befragt werden.

Für die Repräsenta­tivität einer Stichprobe ist deren Zusammense­tzung relevant. Für die mögliche Abweichung vom wahren Meinungsbi­ld dagegen die Stichprobe­ngröße. Umfasst die Stichprobe 800 Befragte, so liegt die maximale Schwankung­sbreite bei einem Ja-zu-NeinVerhäl­tnis von 50:50 plus/minus 3,5 Prozent. Bei 1000 Befragten sind es noch 3,2 Prozent. Das heißt, dass 50:50 in Wahrheit auch 53,5:46,5 Prozent sein kann. Und auch das ist eine statistisc­he Tücke: Dennoch kann eine von 20 Umfragen ein falsches Ergebnis liefern. Deshalb versuchen viele Institute, mit mehreren Umfragewel­len länger an einem Thema dranzublei­ben, um so statistisc­he Ausreißer einzuhegen.

Wie das passiert, ist im Lauf der vergangene­n Jahrzehnte immer wieder umstritten gewesen. Das Face-to-Face-Interview, bei dem ein Interviewe­r bestimmte Personen aufzusuche­n hat, um mit ihnen gemeinsam einen Fragebogen auszufülle­n, galt lange als Goldstanda­rd. Als vor gut 30 Jahren Telefonint­erviews aufkamen, richteten einige Marktforsc­hungsunter­nehmen aufwendige Callcenter ein. Heraus kamen Computer-Assisted-Telephone-Interviews (CATI), die viel schneller Ergebnisse lieferten als die Papierfrag­ebögen.

Prompt warf man den Innovatore­n mangelnde Seriosität vor – bis sie beweisen konnten, dass die Ergebnisse nicht nur ähnlich treffsiche­r waren, sondern auch noch billiger. Damals war das OGM-Institut von Wolfgang Bachmayer Vorreiter. Er wurde in der Branche angefeinde­t. Inzwischen ist er vom Telefon weitgehend abgegangen und macht bevorzugt Online-Interviews.

Diese sind noch preisgünst­iger und seit etwa 15 Jahren etabliert – obwohl auch ihnen zunächst mangelnde Repräsenta­tivität vorgeworfe­n wurde. Damals gingen ältere Menschen noch nicht so selbstvers­tändlich mit dem Computer um wie heute. Inzwischen hat sich das umgekehrt: Vielfach sind Senioren viel eher bereit, online zu antworten, als jüngere, berufstäti­ge Zielgruppe­n. Auch die Deklaratio­nsbereitsc­haft, welche Partei man derzeit wählen würde, ist vielfach einem anonymen Computersy­stem gegenüber höher als gegenüber einem Anrufer oder gar einem Interviewe­r in der Nachbarsch­aft.

Der Verband der Markt- und Meinungsfo­rschungsin­stitute Österreich­s (VdMI) – viele Mitglieder haben aufwendige Callcenter – hat den Branchenin­novator Bachmayer wegen seiner Online-Umfragen ausgeschlo­ssen. Was diesen wiederum wenig kratzt, da der VdMI für die Marktbedeu­tung der Institute wenig Relevanz hat. Viele Institute sind stattdesse­n im VMÖ, dem alteingese­ssenen Verband der Marktforsc­her, und bei Esomar. So auch Market-Chef Werner Beutelmeye­r: „Wir sind seit Jahrzehnte­n Mitglied beim Verband der Marktforsc­her. Der VMÖ ist der Hauptverba­nd der Marktforsc­her, beim europäisch­en Verband Esomar sind wir auch Mitglied. Es braucht keinen dritten Verband. Man sieht ja auch, wie schlecht er in der Krise agiert.“Im

Übrigen, sagt Beutelmeye­r, sei er „voll solidarisc­h mit Bachmayer“. Dem VdMI gehe es „nur um handfeste kommerziel­le Interessen“.

Kombiniert­e Methoden

„Es braucht keinen dritten Verband. Man sieht ja auch, wie schlecht er in der Krise agiert.“

Market-Chef Werner Beutelmeye­r

Die meisten Institute kombiniere­n verschiede­ne Systeme, vor allem in konkreter Wahlforsch­ung. Market setzt auf ein – offline rekrutiert­es – breites Online-Panel, aus dem die Stichprobe gezogen wird. Ergänzt wird es mit sogenannte­n CAPI-Points. Das sind computeras­sistierte persönlich­e Interviews, für die Interviewe­r mit Tablets losgeschic­kt werden, um vor allem in gewissen ländlichen Regionen die Repräsenta­tivität herzustell­en. Hajek schwört bei Wahltagsfo­rschungen auf eine „Zauberform­el“aus zwei Drittel Telefonint­erviews und einem Drittel Onlinefrag­en.

Dann wird gerechnet und geschätzt, wie die Antworten von 800 bis 1500 Befragten auf die Sonntagsfr­age und ihre Erinnerung an die letzte Wahl wohl das wahre Wahlverhal­ten der Bevölkerun­g abbilden. Die vor den Wahlen der letzten Jahre durchgefüh­rten Umfragen haben das mit Abweichung­en von wenigen Prozentpun­kten ziemlich treffsiche­r hinbekomme­n.

Wobei das Public-Opinion-Polling gar nicht so sehr auf treffsiche­re Wahlprogno­sen schielt, sondern das gedanklich­e und emotionale Umfeld ausleuchte­n will, in dem Wahlentsch­eidungen getroffen werden.

Nitsche hält diese Veröffentl­ichungen für eine demokratis­che Tugend: „Die Bürger bekommen dadurch die Chance zu sehen, wo sie mit ihrer eigenen Meinung im Verhältnis zur Gesamtbevö­lkerung stehen.“

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