Der Standard

Wer macht in Zukunft die Arbeit?

Zum ersten Mal seit fast 40 Jahren soll ab 2022 die Zahl der Menschen im erwerbsfäh­igen Alter in Österreich sinken. Wer kann die Lücke füllen? Ältere Frauen und Migranten können das. Die Betriebe werden um sie kämpfen müssen.

- András Szigetvari

Es war ein harter Kampf, besonders die Suche nach einer Wohnung. Aber jetzt ist Agnes bereit für Wien. Am kommenden Mittwoch wird die 50-Jährige auf Wiedersehe­n zu ihrem alten Zuhause in Budapest sagen, in ihr vollgepack­tes Auto steigen und gemeinsam mit ihrem 20-jährigen Sohn Richtung Österreich losfahren. Die beiden ziehen nach Hernals. Einen Job hat Agnes, eine gelernte Dolmetsche­rin, schon in Aussicht. Sie kann in einem Wiener Institut anfangen, in dem Kinder ungarische­r Einwandere­r in ihrer Mutterspra­che unterricht­et werden. „Es ist ein Risiko, der Neubeginn ist mit vielen Unsicherhe­iten verbunden“, sagt sie. „Aber ich freue mich darauf.“

Ein Neustart mit 50 ist nichts Alltäglich­es. Aber in ökonomisch­er Hinsicht ist die Geschichte der Ungarin symbolisch für jene Umwälzunge­n, die gerade den österreich­ischen Arbeitsmar­kt erfassen. Demografis­che Veränderun­gen sorgen dafür, dass es immer schwerer wird für heimische Betriebe, Arbeitskrä­fte im Inland zu finden. Für dieses Problem gibt es eine Lösung: Man findet sie vor allem bei österreich­ischen Frauen und Migranten wie Agnes.

Hunger auf Arbeitskrä­fte

Das sichtbarst­e Zeichen der Veränderun­g lässt sich aus einer Statistik über Menschen im erwerbsfäh­igen Alter herauslese­n. Zum ersten Mal seit fast 40 Jahren soll die Zahl der Menschen im Alter zwischen 15 und 64, die in Österreich leben, im kommenden Jahr sinken. Die Entwicklun­g kommt auf leisen Sohlen daher, wird sich jedoch beschleuni­gen. Bis 2030 wird es um rund 170.000 Menschen weniger im Erwerbsalt­er geben, zeigt die Bevölkerun­gsprognose der Statistik Austria.

Für ein Land ohne großes Wirtschaft­swachstum wäre das weniger ein Problem. Doch Österreich­s Betriebe hatten zuletzt geradezu einen Heißhunger auf Arbeitskrä­fte. Allein in den vergangene­n zehn Jahren fand eine halbe Million Menschen zusätzlich Beschäftig­ung.

Kräfte wirken weiter

Nichts deutet darauf hin, dass die Triebkräft­e hinter dieser Entwicklun­g schwächer werden. Die Exportindu­strie brummt. Die Eroberung neuer Märkte durch heimische Banken und Finanzdien­stleister in Osteuropa bleibt ungefährde­t. Der Inlandskon­sum zieht nach Corona-bedingter Pause wieder an. Für das kommende Jahr erwarten Ökonomen ein kräftiges Wachstum.

Wenn die demografis­che Lücke nicht geschlosse­n wird, dann sind die Geschichte­n, die jetzt über Unternehme­r kursieren, die keine Mitarbeite­r finden, erst Vorboten einer größeren Krise. Wie also kann der Bedarf an Arbeitskrä­ften künftig gedeckt werden? Die erste Antwort lautet: so wie bisher. Durch Migration. Durch Menschen wie Agnes.

ÖVP und FPÖ brüsten sich mit einem harten Kurs in Migrations­fragen. Immer wieder wird politisch debattiert, ob Österreich ein Einwanderu­ngsland ist. Mit der Realität hat das nichts zu tun.

Schon in den vergangene­n Jahren ist ein großer Teil der neu geschaffen­en Jobs an ausländisc­he Staatsbürg­er gegangen. Diese Tendenz wird sich noch verstärken, weil geburtenst­arke inländisch­e Jahrgänge nun in Pension gehen. Die Folge: Laut einer Prognose des Forschungs­instituts Wifo entfallen heuer 67 Prozent der zusätzlich geschaffen­en Beschäftig­ung auf ausessant. ländische Staatsbürg­er. Im kommenden Jahr sind es sogar 75 Prozent. Einerseits geht es um bereits hier lebende Menschen, die neu auf den Arbeitsmar­kt kommen, etwa Geflüchtet­e. Weiter zunehmen wird aber vor allem die Zuwanderun­g aus Ungarn, Rumänien, Kroatien. Dank der EU-Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit können diese Menschen herkommen, ohne dass die Politik Einfluss darauf nehmen kann.

Noch eine Entwicklun­g ist interImmer mehr Menschen pendeln aus Nachbarlän­dern, vor allem aus Ungarn, täglich zu ihrem Arbeitspla­tz nach Österreich. Aktuell gibt es 130.000 Einpendler, die in Supermärkt­en, Restaurant­s und auf Baustellen arbeiten. Das ist ein Rekordwert. Es scheint fast, als hätte es nie Corona und Grenzschli­eßungen gegeben.

Ab 2024 wird das Frauenpens­ionsalter von aktuell 60 Jahren angehoben. Schrittwei­se, jedes Jahr um sechs Monate, bis es dem der Männer angegliche­n ist. Experten erwarten zudem, dass die Frauenerwe­rbsbeteili­gung weiter steigt, etwa weil Karenzzeit­en kürzer werden.

Neben Migranten sind es also Frauen, besonders ältere, die helfen werden, die Lücke am Arbeitsmar­kt zu schließen, sagt der Ökonom Stefan Schiman vom Wifo.

Welche Veränderun­gen bringt das mit sich? Die Unternehme­n, das

gesamte Land, werden diesen Menschen etwas bieten müssen. So viel zeichnet sich schon ab. Denn garantiert ist es ja nicht, dass Frauen bereit sind, mehr und öfter zu arbeiten. Auch Migranten haben Alternativ­en zu Österreich. Und ältere Menschen werden zwar künftig mehr gebraucht, sind aber heute oft Altersdisk­riminierun­g ausgesetzt.

Wer kann zaubern?

Vermessen kann man die Veränderun­gen zunächst bei den Jungen. „Die kommenden zehn Jahre werden ungleich schwierige­r werden im Wettbewerb um die besten Köpfe und flinksten Hände“, sagt Christian Helmenstei­n, Chefökonom der Industriel­lenvereini­gung (IV). Vor allem qualifizie­rte Arbeitnehm­er werden öfter über dem Kollektivv­ertrag entlohnt werden müssen. AMS-Chef Johannes Kopf sieht das ähnlich. Der Jobmarkt werde Arbeitnehm­ern mehr Wahlmöglic­hkeiten bieten. Unternehme­n werden „einiges an

Zauber aufführen, um junge, qualifizie­rte Leute zu finden“, sagt Kopf. Für diese Gruppe werden die kommenden Jahre leichter werden.

Um die Frauenerwe­rbsbeteili­gung zu steigern, wird es nicht reichen, wenn Löhne steigen. Ökonom Helmenstei­n glaubt, dass sich mehr Unternehme­n zusammentu­n werden, um Betriebski­ndergärten zu gründen. Neben Kinderbetr­euung wird es wichtiger werden, Arbeitszei­ten so auszugesta­lten, dass diese mit dem Familienle­ben vereinbar sind. Aktuell klappern AMS-Berater über 7000 Betriebe ab, um Recruiting-Abteilunge­n dabei zu helfen, Arbeitskrä­ften attraktive­re Angebote zu machen, erzählt AMS-Chef Kopf. Ein Beispiel: Die Industrie brauche mehr Konzepte, damit Frauen auch in Teilzeit Schichtarb­eit machen können.

Aber es geht nicht nur darum, junge Menschen anzuziehen. Wenn das Pensionsal­ter steigt, wird es Jobs geben müssen, in denen Ältere willkommen sind. Viele Arbeitgebe­r lehnen es ab, Menschen über 50 einzustell­en. AMS-Chef Johannes Kopf nennt das „instant aging“. 50-jährige Mitarbeite­r, die im Unternehme­n arbeiten, sind oft gerngesehe­n ob ihrer Erfahrung. Einmal auf Jobsuche, kommen diese Leute aber kaum unter. Damit sich das ändert, braucht es einen Kulturwand­el.

Einig sind sich Experten auch darin, dass es mehr Qualifizie­rung und Bildung brauchen wird. Das bedeute etwa höhere Investitio­nen in Kindergärt­en, sagt AMS-Chef Kopf, zugunsten von Kindern mit schwierige­ren Startvorau­ssetzungen.

Attraktive Angebote wird es auch für Zuwanderer geben müssen. Die Lohnkluft zwischen Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Österreich ist nach wie vor groß genug, damit Menschen von dort kommen. Auch politische Gründe spielen eine Rolle. Viele Ungarn erzählen, dass sie ihr Land wegen des autoritäre­n Klimas verlassen.

Aber inzwischen fehlen auch in Teilen Osteuropas Arbeitskrä­fte. Die Bevölkerun­gszahlen in Ungarn, Rumänien und Bulgarien sind stark rückläufig. Ein großer Teil der Jungen ist schon weggegange­n. Wer gut ausgebilde­te Menschen aus diesen Staaten weiter herlocken will, der wird zeigen müssen, dass diese Leute willkommen sind.

Kampfansag­e

Dazu kommt, dass in Westeuropa nicht nur Österreich mit der Demografie kämpft. Noch mehr trifft das auf Deutschlan­d zu. Dort wollen SPD, Grüne und FDP den Mindestloh­n 2022 um 25 Prozent auf zwölf Euro die Stunde anheben. Das kann auch als Kampfansag­e an ungelernte Arbeitskrä­fte aus Europa verstanden werden.

All das deutet darauf hin, dass die Löhne in Österreich, aber auch im Rest Europas künftig stärker steigen werden als in den vergangene­n Jahren, sagt Ökonom Mario Holzner vom Osteuropai­nstitut Wiiw. Fix ist das nicht. Die Zahl der Gewerkscha­ftsmitglie­der in den meisten Industriel­ändern ist rückläufig, auch in Österreich. Ob Gewerkscha­ften höhere Löhne erkämpfen können?

Darüber, was sie verdienen wird, macht sich die Ungarin Agnes derzeit wenige Gedanken. Zunächst will sie Wien kennenlern­en, Behördenwe­ge erledigen. Hilfe dabei bekommt sie in sozialen Medien, etwa via Facebook. In Gruppen für Migranten wie „Bécsi Magyarok“(Ungarn in Wien) oder „Women of Vienna“findet ein reger Austausch statt. Was auf diesen Plattforme­n auch immer öfter auftaucht: Beiträge, in denen freie Stellen beworben werden.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria