Jenseits der Mechanik
Von der Schönheit der Studie, heute (III): die Kunst von Wassili und Michail Platow aus Riga.
Schach stand hoch im Kurs in der Sowjetunion, das Spiel der Vernunft passte sich hervorragend in die wissenschaftliche Weltauffassung des Marxismus ein. Neben dem sportiven Spiel kam auch die Studie, die Kunst des Schachspiels, zu einer hohen Blüte. Nach Alexei Troitzky gelten die Brüder Platow aus Riga als Pioniere des Faches. Wassili Nikolajewitsch Platow (1881– 1952) war Arzt, gemeinsam mit seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Michail verfasste er viele komplexe Studien, in denen der künstlerische Aspekt immer mehr Priorität über die rein mechanischen Aspekte der Studie gewann. Das Sowjetregime hat es ihnen nicht gedankt. Bruder Michail Platow, Leiter einer Kolchose nahe Moskau, wurde während der stalinistischen Säuberungswelle 1937 in einen Gulag verschleppt, wo er nach kaum einem Jahr wie Millionen andere an Entkräftung starb. Es bleibt das große Werk der beiden Brüder.
Wassili Platow
Rigaer Tageblatt 1905
Weiß zieht und gewinnt. Turm und Springer sollen gegen die Dame in offener Stellung reüssieren. Auf den ersten Blick ein Ding der Unmöglichkeit, zudem auch noch Springer und Bc2 hängen. 1.Te8+! Die erste Überraschung! Der Turm ist tabu: 1... Dxe8? 2.Sd6+ bzw. 1... Kf5/f3? 2.Sd4+ jeweils mit Damenverlust. Bleibt nur 1… Kd5 2.Te6!! Die nächste Überraschung. Auch auf e6 ist der Turm tabu: 2... Dxe6? 3.Sc7+ bzw. 2... Kxe6 3.Sd4+. Es geht aber noch weiter: Falls 2... Dxb5, so 3.Te5+, falls 2... Dd7 3.Td6+ und falls 2... Dxc2 3.Te5+ Kc4 (3... Kc6 4.Sd4+) 4.Sa3+ jeweils wieder mit Damenverlust. 2… Dc4! Der einzige Zug. 3.Te4!! Und noch einmal der Griff in die Zauberkiste. 3… Dc6 Wieder sind alle weißen Steine tabu: 3... Dxb5? 4.Te5+ oder 3... Kxe4? 4.Sd6+ bzw. 3... Dxe4? 4.Sc3+ und schließlich 3... Da2 4.Sc3+. 4.d3! Ein kleiner Zug mit großer Wirkung, es droht 5.Te5 matt. 4… Dg6 Wieder die einzige Möglichkeit: 4... Dd7? 5.Td4+ bzw. 4... Kc5? 5.Tc4+. 5.Te5+ Kc6 6.Te6+!! Die Pointe aller Pointen! Weiß gewinnt schlussendlich die Dame. 6… Dxe6 7.Sd4+ Kd5 8.Sxe6 Kxe6 9.Kxe2 und Weiß gewinnt das Bauernendspiel.
Wassili & Michail Platow
Rigaer Tageblatt 1909
Wladimir Iljitsch Lenin mochte dieses Werk der Platow-Brüder besonders. „Ein herrliches Stück“, nennt er es in einem Brief an seinen Bruder Dimitri Uljanow. Auch Emanuel Lasker war begeistert. Die Forderung Weiß zieht und gewinnt erscheint mehr als unwahrscheinlich, Schwarz holt sich im nächsten Zug eine Dame. 1.Lf6 d4 Was nun? 2.Se2! Nicht 2.Sf3?: 2… a1D 3.Lxd4+ Dxd4 4.Sxd4 Kxd4 5.Kg4 Kxd3 6.Kg5 Ke4 7.Kh6 Kf5 8.Kxh7 Kf6 mit Remis. 2... a1D 3.Sc1!! Das Wunder! Es droht 4.Lg5 matt und falls 3... h6, so 4.Le5. 3… Dxc1 Erzwungen, wie 3... Kd2 4.Sb3+ oder 3... Da5 4.Lxd4+ Kxd4/Kd2 5.Sb3+ zeigen. 4.Lg5+ Kxd3 5.Lxc1 Weiß hat die Dame gewonnen, und jetzt kommt es auf jedes Tempo an. 5… Kc2 6.Lf4 d3 7.Kg4 d2 8.Lxd2 Kxd2 9.Kg5 Ke3 10.Kh6 Kf4 11.Kxh7 Kg5 12.h6 Kf6 13.Kg8! Weiß erreicht gerade rechtzeitig das Gewinnfeld.
Wassili & Michail Platow Sydsvenska Dagbladet Snällposten 1911
Weiß zieht und gewinnt. Es stehen sich Dame gegen Turm und Läufer gegenüber, dazu noch je ein Freibauer, und beide Könige befinden sich auf unsicherem Terrain. Klar ist, dass Weiß den Freibauern forcieren wird, Turmschach und Einzug droht. Die zündende Idee ist diesmal sehr verborgen. 1.f7 De5! Die einzige Verteidigung. Schwarz akzeptiert den Einzug der Dame, hat aber eine mächtige Drohung: Weiß soll mattgesetzt werden. 2.Ta8+ Kb3
Jetzt droht scheinbar unabwendbar 3… Db2 matt. 3.Ta3+! Ein Turmopfer für ein Tempo! 3… Kxa3 4.f8D+ Kb3
Und wieder droht das furchtbare Matt auf b2. 5.Db4+!!
Die fantastische Pointe! Da Weiß jetzt selbst mit Matt droht, muss Schwarz die Dame nehmen und sich ins tödliche Abzugsschach stellen. Nach 5.Df3+? Ka2 6.Dc3
Dxc3+ 7.dxc3 Kb3 8.Kd2 Kc4 9.Ke3 c5 nebst d5-d4 endet die Angelegenheit hingegen mit Remis. 5... Kxb4 6.d4+! Ein tödlicher Abzug, doch noch immer gilt es, einige kleine Hürden zu meistern. 6… Kb5 7.dxe5 Kc5 8.Kd2! d4 9.Lf2! Im richtigen Moment. 9… Kd5 10.Lxd4! Erst mit diesem präzisen Zug gewinnt Weiß endgültig. 10… c5 11.Lb2 und Ende.
Wassili & Michail Platow Deutsche Schachzeitung 1906
Weiß zieht und gewinnt. Weiß scheint mit seinem c-Bauer einen Tick schneller zu sein als sein Gegenüber und glaubt danach, mit einem Schach auf f5 bequem die soeben umgewandelte Dame auf b1 abholen zu können. Doch es gibt eine versteckte Verteidigungsressource, auf die Weiß eine Antwort finden muss. Der Startschuss führt zu einem simplen Wettlauf. Der Überraschungscoup folgt mit dem zweiten schwarzen Zug.
1.c6 b3 2.c7 Bisher alles im Sinne von Weiß. Was kann Schwarz noch dagegen tun?
2… Lg3+!! Ein erstaunliches Opfer, dessen Sinn sich sogleich enthüllt. 3.Kxg3 b2! Eine teuflische Falle! Nach 4.c8D? b1D 5.Df5+ Ke2 6.Dxb1 steht der König urplötzlich im Patt. Doch nun werden von Weiß unerwartete Kräfte freigesetzt: 4.c8L! Vermeidet das Patt. 4… b1D 5.Lf5+ Ke2 6.Lxb1 mit leichtem technischem Gewinn.