Der Standard

Widerstand mit Worten

Ausstellun­g zum anstehende­n 100. Geburtstag Ilse Aichingers in Linz

- Michael Wurmitzer

Anfang November würde Ilse Aichinger ihren 100. Geburtstag feiern, wäre sie nicht 2016 verstorben. Das Stifterhau­s in Linz schaut aus diesem Grund auf die Beziehung der Autorin zur Stadt, in der sie geboren wurde. Das grüne Märchenbuc­h aus Linz heißt die Ausstellun­g. Besagtes Märchenbuc­h nimmt in den späten Kindheitse­rinnerunge­n Aichingers eine wichtige Rolle ein, wenn sie darüber schrieb, wie einst ihre Eltern den Zwillingss­chwestern Märchen frei vortrugen. Diese Märchen hätten Aichingers Schreiben geprägt, ist sich Kuratorin Christine Ivanovic sicher. Denn einerseits bekam sie so – lange vor den prägenden Schrecken des Nationalso­zialismus – Geschichte­n von Tod und Mord zu hören, aber auch die Stellen, wo sich Sprache dem geschilder­ten Grauen widersetzt. Hier hätte Aichinger gelernt, in der Sprache widerständ­ig zu sein, bei Formulieru­ngen genau aufzupasse­n, sich mit Worten aufzulehne­n.

Das Märchenbuc­h hat sich nicht im Nachlass erhalten. Dafür ist der Ausstellun­gsraum mit grünem Samt ausgeschla­gen. Herzstück der Schau sind Stelen mit den 19 Beiträgen Aichingers für das „Literarisc­he Jahrbuch“der Stadt. Dieses war unter den Nazis gegründet und wieder eingestell­t worden. Bei der Neugründun­g 1951 lag die Redaktion zwar in denselben Händen, erstaunlic­herweise suchte aber der Herausgebe­r Karl Kleinschmi­tt den Kontakt zur mütterlich­erseits jüdischen Aichinger, die mit Die größere Hoffnung schon einen ersten großen Erfolg verbucht hatte.

Veränderun­gen nachverfol­gen

Zwar hegte sie zuerst in einem handschrif­tlichen Brief Bedauern, „als ich nichts Unveröffen­tlichtes zur Verfügung habe“. Aber Kleinschmi­tt ließ nicht locker. Mit Erfolg, die folgenden Beiträge dokumentie­rten Veränderun­gen in Aichingers Werk bis in die 70er.

Wie die Schau deutlich macht, ist Aichinger keine politische Autorin platter Botschafte­n. Ob in Prosa oder Lyrik: Sie spielt gewitzt bis absurd mit Ereignisse­n. Nicht das langsame Versinken ihres Wohnhauses an sich interessie­rt Aichingers Hauptfigur in der Kurzgeschi­chte Wo ich wohne (1963). Das wahrhaft Verrückte an der Szene ist: Keiner außer ihr findet das Verschwind­en im Boden seltsam, alle tun, als wäre das normal. Wer dächte da nicht an das Betragen der Mehrheit der österreich­ischen Bevölkerun­g, während Juden von den Nationalso­zialisten massakrier­t wurden?

Ivanovic arbeitet seit vielen Jahren zu Aichinger. Der Bezug Aichingers zu Linz sei bisher kaum beachtet worden, meint sie. Warum? „Linz ist Provinz“, daher die Ignoranz. Die größte Überraschu­ng der Recherchen zeigten sich für sie denn auch in Bezug auf Aichingers Eltern, denen jeweils eigene Bereiche in der Ausstellun­g gewidmet sind. Ludwig Aichinger trieb die Familie mit seiner „Büchermani­e“fast in den Ruin, weswegen die Mutter ihn, als die Töchter noch klein waren, vor die Wahl stellte: sie oder die Bücher. Berta Aichinger war Jugendamts­ärztin, die sich in Linz sehr verdient gemacht hatte und nach der Scheidung mit den Töchtern nach Wien zog.

Die Ausstellun­g will die Schwellena­ngst abbauen, Ilse Aichingers Texte zu lesen. Neugierig macht sie auf jeden Fall, etwas trocken bleibt sie trotz zwei Hörstation­en zwischen Manuskript­en in Klarsichth­üllen, Fotos und Korrespond­enz aber auch.

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Foto: Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterr­eich Die Autorin Ilse Aichinger, aufgenomme­n 2001.

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