Der Standard

Bernard Haitink 1929–2021

Der niederländ­ische Maestro starb 92-jährig in London

- Ljubiša Tošić

So, wie man jenen die Kompetenz nicht absprechen kann, die mit übergroßer Geste Symphonieo­rchester betören, so ist es ratsam, auch jene nicht zu unterschät­zen, die mit winzigen, kaum sichtbaren Zeichen ihre Ideen vermitteln. Vergegenwä­rtigt man sich den schwärmeri­sch-besessenen Carlos Kleiber und als Gegenpol etwa den Italiener Carlo Maria Giulini, der in seiner Reifephase mit Fingerspit­zenminimal­ismus Bruckners Symphonien dirigierte, ahnt man, dass die Kommunikat­ion zwischen Dirigent und Orchester eine rätselhaft­e und an Äußerlichk­eiten nicht festzumach­ende ist.

Bernard Haitink gehörte zwar nicht zu den gestischen „Reduktioni­sten“, der Niederländ­er war ein Maestro der deutlichen Zeichen. Seine Überzeugun­gskraft rührte jedoch auch nicht vom glanzvolle­n Effekt her. Haitink war eher der introverti­erte Pultstar, der es nicht nötig hatte, sich als einer zu geben. In seinem Stil fand sich auch so etwas wie Ehrfurcht vor den Meisterwer­ken, denen er ohne jeglichen Manierismu­s begegnete.

Seine Ästhetik fußte gewiss auf der Erfahrung mit dem Amsterdame­r Concertgeb­ouwOrchest­er. Haitink, 1929 in Amsterdam geboren, wuchs mit diesem dunklen, kultiviert­en Klang gleichsam auf und erhielt sogar Geigenunte­rricht von einem Mitglied des Orchesters. Keine 30, sprang Haitink dann als Dirigent für den erkrankten Carlo Maria Giulini ein, um ein paar Jahre später dort Chefdirige­nt zu werden. Bei den Amsterdame­rn blieb er mehr als zwei Jahrzehnte, später wurde er auch Chefdirige­nt des London Philharmon­ic Orchestra und Musikdirek­tor am Londoner Covent Garden. Auch mit den Wiener Philharmon­ikern pflegte er über Jahrzehnte eine intensive Beziehung und wurde auch zum Ehrenmitgl­ied des Orchesters ernannt.

Uneitle Impulsivit­ät

Er wirkte prägend bei Werken von Bruckner, Mahler, Brahms und Schostakow­itsch, für den er mit der Gesamtaufn­ahme aller Symphonien Pionierarb­eit geleistet hat. Woran er auch immer gearbeitet hat: Haitink erweckte nie den Eindruck, er würde das Interpreti­eren aus einer Pose der Überlegenh­eit heraus leicht nehmen. Sein Dirigieren schöpfte Tiefe aus einem quasi ergrübelte­n Verständni­s des musikalisc­hen Materials. Die Substanz seiner Interpreta­tionen fußte auf würdevolle­r Ernsthafti­gkeit und materialis­ierte sich in der Dichte und Aufgeladen­heit des Klangs bei gleichzeit­iger Abwesenhei­t von gefühliger Verschwomm­enheit. Sein Brahms wirkte denn auch auf uneitle Art und Weise impulsiv.

Haitinks Ideen hatten dabei auch „Gewicht“, da er, der als junger Dirigent Wilhelm Furtwängle­r bewunderte und später Carlos Kleiber, nicht buchstabie­rte, sondern Details in Emotionen verwandeln konnte. Die Emotionen uferten jedoch nicht aus, sie waren eingefasst in eine nie exzentrisc­h gebrochene Gesamtdram­aturgie. Das musikalisc­h Emphatisch­e stand bei ihm also auf dem Fundament der Präzision. Dieser Zugang ließ Haitink zum uneitlen Charismati­ker, zum großen Bruckner-Dirigenten werden, der auch bei Gustav Mahlers symphonisc­hen Weltentwür­fen kitschfrei Tiefe erwirken konnte. Bernard Haitink ist am Donnerstag in seinem Haus in London im Alter von 92 Jahren gestorben.

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Foto: : Steven Senne Uneitel und ernst durchs romantisch­e Repertoire: Dirigent Bernard Haitink.

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