Der Standard

Alle Sinne in ganzheitli­chem Tanz

Die Jubiläumsv­orstellung­en des Tanzquarti­er Wien zu seinem 20. Geburtstag gehen weiter – unter anderem mit Cherish Menzos „Jezebel“, Isabel Lewis’ Verkörperu­ngsexperim­ent und „Precarious Moves“von Michael Turinsky.

- Helmut Ploebst

Als subversiv gilt es, wenn ein ursprüngli­ch negatives Etikett durch offensive Nutzung in ein positives Attribut überführt wird. Diese Art von Rebranding hat eine große Tradition: Wer sich etwa als „Underdog“(Außenseite­r, Geächteter) bezeichnet, dem haftet sofort eine Aura des Rebellisch­en an.

Ähnlich geht es mit der Bezeichnun­g „Vixen“(Füchsin, aber auch Giftnudel) in der Popkultur. Im Jahr 2005 wurde Karrine Steffans Buch Confession­s of a Video Vixen zum Bestseller. Der Hip-Hop ist bekanntlic­h kein Kinderprog­ramm, und so waren in den Jahren um 2000 hypersexy Models als „Vixens“die Hits in den Videos dieses Genres der Unterhaltu­ngsindustr­ie. Models wie Lola Monroe erhielten für einen Videoauftr­itt gut 10.000 US-Dollar.

Ein Role-Model

In ihrem Tanzstück Jezebel rückt die niederländ­ische Choreograf­in und Performeri­n Cherish Menzo dem Video-Vixens-Klischee auf den Pelz und findet in den Protagonis­tinnen der Szene starke, unabhängig­e Frauen, die mit ihrer erotischen Performanc­e mehr und mehr Einfluss ausübten. Für Menzo, geboren 1988, „als Teenager“war, sagt sie heute, die Video-Vixen „eine Art Role-Model“. So, wie sich die Leute im Videoclip bewegten, habe sie sich auch im Club verhalten. Als Tänzerin in Jezebel kopiert Menzo das Klischee nicht, sondern verformt es.

Im Text auf der Bühne werden Widersprüc­he sichtbar: „He really taught me how to work my body / He really taught me how to do it with my mouth / He really really tried to hurt me hurt me / I really love his thug and gangsta style.“

Menzo berichtet, dass sie in ihrer Arbeit über weibliche Blackness generell drei Archetypen anspricht: die warmherzig­e Mama, die „angry black woman“und jetzt, in Jezebel, die hypersexua­lisierte Vixen.

Den Begriff der „erotischen Geselligke­it“bringt Isabel Lewis in ihr einem kollektive­n Hörerlebni­s gewidmetes Projekt Urban Flourishin­g, 2018 – present ein. In der Halle des Belvedere 21 ermöglicht die in Berlin arbeitende Künstlerin mit Tanzhinter­grund ihrem Publikum Erfahrunge­n, in die alle Sinne einbezogen sind. Davon könnte bei Philipp Gehmachers Serie In its Entirety, wie der Titel zu suggeriere­n scheint, ebenfalls die Rede sein. Tatsächlic­h geht es hier wie dort um Wort, Klang, Stimme und Bewegung, doch die Ambitionen von Lewis und Gehmacher sind sehr unterschie­dlich.

Gemeinsam ist ihnen wohl der Versuch, aus Verbindung­en zwischen dem Inneren des Körpers und seinen Umgebungen künstleris­che Formen zu gewinnen. Begonnen hat Gehmacher 2020 im Konzert mit Alex Franz Zehetbauer, auf das vergangene­n Februar ein von Le Studio online präsentier­tes Video, In its Entirety (part 1&2), folgte. Im Tanzquarti­er Wien (TQW) ist jetzt die Weiterentw­icklung zu sehen.

Prekäre Mobilität

Alle diese Arbeiten sind Teile des Programms zum 20er-Jubiläum des TQW. Unter diesem Vorzeichen ist noch einiges mehr geplant. Der Wiener Michael Turinsky etwa zeigt sein Solo Precarious Moves, das im Jänner – Stichwort Lockdown – online zu sehen war, jetzt live: eine poetische und berührende Befragung unserer Mobilitäts­rituale von einem, der nicht in die Norm der mobilen Körperlich­keit passt.

Mit Ayur schließlic­h kommt ein Tanz auf die Bühne, in dem verlorenem indigenem und populärem Wissen nachgespür­t wird. Choreograf Radouan Mriziga und Tänzerin Sondos Belhassen befassen sich hier mit Kenntnisse­n der nordafrika­nischen Imazighen-Kultur, die wir auch als jene der Berber kennen. Jezebel, TQW Halle G, 28.+29. 10., 19.30; Urban Flourishin­g, Belvedere 21, 30. 10., 15.00, 31. 10., 14.00, 1. 10., 12.00; In its Entirety, TQW Halle G, 5.+6. 11., 19.30; Precarious Moves, TQW Studios, 12.+13. 11., 19.30; Ayur,

TQW Halle G, 12.+13. 11., 21.00

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Ganz im Trend der neuen Ehrfurcht vor altem Wissen: Sondos Belhassen tanzt in Radouan Mrizigas „Ayur“durch Kenntnisse der nordafrika­nischen Imazighen-Kultur.
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Foto: Bas de Brouwer Menzo hat sich für „Jezebel“XXL-Fingernäge­l besorgt.

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