Der Standard

Auf (noch) ein Bier

Nicolas Mahler ist zurück. Zusammen mit Jaroslav Rudiš geht es durch das Prager Nachtleben.

- Karin Krichmayr

Wer hat nicht in der langen Pandemie-Durststrec­ke von einem gepflegten Lokal-Ziaga mit unbekannte­m Ausgang geträumt? Eine solche – ja, man könnte es so nennen – Sauftour begleitet Nachtgesta­lten, der jüngste Band von Nicolas Mahler, dem wohl erfolgreic­hsten zeitgenöss­ischen österreich­ischen Comickünst­ler. Während Mahler zuletzt eine Reihe von Literatura­daptionen klassische­r Autoren (Ulysses, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zum Beispiel) und eine „unkorrekte Biografie“zu Thomas Bernhard vorlegte, hat er sich hier mit dem tschechisc­hen Gegenwarts­schriftste­ller Jaroslav Rudiš zusammenge­tan. Das Setting ist simpel: Zwei Freunde ziehen durch die Prager Nacht, getrieben von der Sperrstund­e, immer auf dem Weg zu einem neuen Beisl, das noch ein Bier ausschenkt, und noch eins.

„Es gibt Hoffnung für uns alle.“– „Ich will Wisent werden. Nicht in diesem Leben.“Dialoge wie diese, die nur der Trunkenhei­t entspringe­n und zu (zumindest im Augenblick) genialen Gedankenka­skaden führen können, begleiten die beiden Gestalten. Einer – er ist Historiker – ist hager und groß, einer klein und untersetzt, beide sind in Mahler’scher Manier gesichtslo­s und auf ihre nötigsten Eigenschaf­ten reduziert. Wenn wieder einmal das Licht in einem Lokal ausgeht und die Rollläden herunterge­fahren werden, zieht es die beiden erneut in die tiefe Nachtschwä­rze der Stadt, genauso wie sich so manches unaufgelös­te Gespräche im Dunkeln verliert. Das nächste beleuchtet­e Wirtshaus ist ein sicherer Hafen, nichts muss gesagt, alles darf ausgesproc­hen werden.

Der gemächlich­e Flow bricht hin und wieder ins Melancholi­sche, dann wieder ins Absurd-Lustige aus, dreht sich mal um die verflossen­e Liebe und einen katastroph­alen Hochzeitsc­rash, mal um eine Bergtour, die mit einem Rettungsei­nsatz mit philosophi­sch bewanderte­n Bergretter­n endete. Die Freunde, die immer mehr ins Wanken geraten, sinnieren über das Unglück an sich, wärmen alte Kalauer auf, kommen auf unverhofft­e Ideen und blicken in die Abgründe der eigenen Familienge­schichte, die schwarzen Löcher der Nazizeit.

Tragik und Euphorie, Banales und Tiefsinnig­es wechseln so schnell wie die Lokale, der selbstiron­ische Humor geht den beiden nie aus.

Und so wird die Dialogkett­e dieses Männeraben­ds zu einer berauschen­den Lesetour durch eine stimmige Bild-Text-Kompositio­n, die Lust auf Bier und lange Nächte

macht. Prost!

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 ?? ?? Beim Streifzug durch die lange Nacht gibt es auch durchaus gute Nachrichte­n. Beide Charaktere sind in Mahler’scher Manier gesichtslo­s und auf die nötigsten Eigenschaf­ten reduziert.
Beim Streifzug durch die lange Nacht gibt es auch durchaus gute Nachrichte­n. Beide Charaktere sind in Mahler’scher Manier gesichtslo­s und auf die nötigsten Eigenschaf­ten reduziert.
 ?? ?? Jaroslav Rudiš, Nicolas Mahler, „Nachtgesta­lten“. € 18,90 / 144 Seiten. Luchterhan­d, München 2021
Jaroslav Rudiš, Nicolas Mahler, „Nachtgesta­lten“. € 18,90 / 144 Seiten. Luchterhan­d, München 2021

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