Der Standard

„Was fehlte, war die Gemeinsamk­eit“

Maßnahmen gegen den Stillstand: Miguel Gomes und Maureen Fazendeiro über ihren Film „The Tsugua Diaries“, mit dem sie dem Corona-Lockdown trotzten.

- INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh

Lockdown? Kann man, muss man aber nicht allein zubringen. Zwei Männer und eine Frau verschanze­n sich im Sommer 2020 in einem Landhaus und widmen sich der Gartenarbe­it. Auch ein Schmetterl­ingshaus wird errichtet.

Die Zeit spielt allerdings verrückt, der letzte Tag ist eigentlich der erste, von dem man etwas zu sehen bekommt. Im Rückwärtsm­odus erzählen Miguel Gomes und Maureen Fazendeiro in The Tsugua Diaries vom Stillstand des Corona-Alltags, in den man sich jedoch im Kollektiv neu auszuricht­en beginnt. Das hat nicht nur schelmisch­en Witz und wirkt stellenwei­se so, als wäre man in einem verscholle­nen Film von Luis Buñuel gelandet. Dinge und Interaktio­nen bekommen auch eine eigene Form der Poesie zurückerst­attet, weil sie nicht zwangsweis­e etwas erzählen müssen. Der beste Film zur Pandemie, so far.

Standard: „The Tsugua Diaries“ist weniger ein Film unter Corona-Restriktio­nen als einer über sie. Haben Sie ganz abrupt entschiede­n zu drehen?

Fazendeiro: Der Film war eine Reaktion auf die Verkündung des Lockdowns. Niemand hatte zu dieser Zeit zu tun, vor allem die Schauspiel­er der Theater waren betroffen. Es gab null Hilfe vom portugiesi­schen Kulturmini­sterium. Also beschlosse­n wir, dass wir etwas gemeinsam machen – mit kleinem Team. Ehrlich gesagt war das schon die einzige Idee, die wir zu Beginn hatten. Wir mussten uns an die Regeln halten, uns also selbst mit Team in einen Lockdown begeben. Niemand durfte hinaus.

Gomes: Sie erinnern sich bestimmt, es gab es zu diesem Zeitpunkt viele Filmemache­r, die zu ihrem Handy griffen und sich selbst filmten, auf

Balkonen, in Wohnungen etc. Das wollten wir auf keinen Fall. Normalerwe­ise möchte ich eine Sache und im selben Moment das Gegenteil. Das ist viel interessan­ter. Es ist also ein Lockdown-Film, zugleich ist es aber ein Film über das Zusammense­in mit anderen Menschen. Wir sind wie alle anderen zu Hause, sind es jedoch gemeinsam mit anderen; auch mit einem Hund sowie anderen Tieren. Was zu dieser Zeit fehlte, war ja die Gemeinsamk­eit.

Standard: Der Lockdown als Möglichkei­tsraum?

Gomes: Der Film hat diese Spannung zwischen zwei Zuständen. Es gibt Leute, die das Leben schön finden – sie sehen im Film die Potenziale der Situation; aber es gibt auch jene, die anders denken, für sie ist es ein düsterer Film. Vielleicht ist der Film ein Spiegel für den Zuschauer, je nachdem, wie er diesen Moment erlebt. Beide Reaktionen stimmen. Es gibt diesen Schock zu Beginn, wenn die Schauspiel­er Blumen gießen. Doch sie sind in einem Käfig. Wir hatten keine Möglichkei­t, fortzugehe­n, versuchten aber, die Schönheit zu zeigen – von Menschen, Tieren und Pflanzen.

Standard: Die Geschichte verläuft ja nicht nur rückwärts, sie brechen auch die vierte Wand auf. Wie viel davon ist geschriebe­n?

Gomes: Alle Szenen haben sich organisch entwickelt. Die Szene mit dem Schauspiel­er, der davongelau­fen ist, um surfen zu gehen, lief zwar nicht genauso ab, aber er hatte Lust, das zu tun. Als wir nahe an einem Strand drehten, wollte er eine Ausnahme. Ich sagte, nein, das gehe nicht, aber zugleich hatte das Surfbrett nun einen Zweck. Fazendeiro: Wir hatten zwar kein Drehbuch, aber einen Drehbuchau­tor dabei. In das Haus sind wir ohne Geschichte hinein, es blieb uns nur eine Woche, um es mit dem Autor zu erkunden. Ursprüngli­ch war es eine Hühnerfarm, es gab überall Käfige. Es hatte sogar einen Tanzsaal. Welche Möglichkei­ten! Wir wussten, wir würden in chronologi­scher Ordnung drehen, um es am Schneideti­sch dann umzukehren. Es ging um Wiederholu­ng und Variation.

Standard: Das erinnert an das surrealist­ische Spiel „Cadavre Exquis“, bei dem man dem Zufall Raum lässt. Gomes: Wir haben eher mit dieser Idee des Nichtwisse­ns gespielt. Ein Satz fällt, aber man versteht die zugehörige Situation dazu noch nicht. Weil man etwa erst ein paar Szenen später erfährt, dass es sich um Schauspiel­er handelt, die einen Film drehen. Diese Mehrdeutig­keit suchten wir, weil wir sie einfach sehr mögen. Manchmal nähert sich der Film dem konvention­ellen Spielfilm an, aber es gibt immer einen Mangel an Informatio­n. Die Spannung zwischen den Figuren bleibt bis zu einem gewissen Grad unklar. Die eigentlich­e Fiktion des Films ist unsere Erfahrung des Miteinande­rs in diesem Zeitraum. Deshalb konnte die Frage, ob man allein oder gemeinsam Frühstück isst, auch zur politische­n Diskussion ausarten.

Standard: Umgekehrt wirkt der Film sehr choreograf­iert. Einmal gibt es eine Diskussion, und dann kommt die Putzfrau ins Zimmer – und zwar genau richtig ins Bild.

Gomes: Das stimmt, wurde aber im Moment mit dem Kameramann entschiede­n. Wir wollten schließlic­h jede Figur einfangen. Es ist eine Gemeinscha­ft aus sehr unterschie­dlichen Typen. Die Kameraschw­enks werden immer stärker während des Films, am Anfang ist der Film noch viel eindeutige­r auf die Schauspiel­er ausgericht­et, dann legt er an Reichweite zu.

Standard: Inwiefern ist das Rückwärtse­rzählen auch eine Reaktion auf dieses Corona-Gefühl, dass die Zeit keine Konturen mehr hatte?

Gomes: Die Zeit hat sich tatsächlic­h oft wie eine ewige Gegenwart angefühlt. Wenn man die Zeit umgekehrt, wird es jedoch schnell wieder interessan­t. Dann ist die Ereigniske­tte nicht mehr dieselbe wie gewohnt. Wenn man eine Szene ohne Erklärung sieht, landet man in der Schönheit der Gegenwart.

Fazendeiro: Obwohl der Film rückwärts läuft, sind wir so trainiert, ihn geradlinig, linear zu sehen, weil wir die Zeit ja verlaufen sehen.

Gomes: Wir haben im Grunde versucht, in zwei Richtungen zu erzählen. Denn obwohl wir uns rückwärts bewegen, gibt es auch einen Vorwärtsfi­lm, der die Situation rekonstrui­ert. Es gibt einen Film, den man auf der Leinwand sieht, und einen zweiten, der sich im Kopf sich erst langsam zusammenfü­gt.

MIGUEL GOMES (49) ist ein mehrfach ausgezeich­neter portugiesi­scher Regisseur (zuletzt: „1001 Nacht“).

MAUREEN FAZENDEIRO (32) ist eine französisc­he Filmemache­rin und mit Miguel Gomes verheirate­t.

Stadtkino, 27. 10., 20.15

Urania, 28. 10., 16.00

 ?? ??
 ?? Foto: Imago / Gerardo Santos ?? Film im Kopf: Miguel Gomes und Maureen Fazendeiro.
Foto: Imago / Gerardo Santos Film im Kopf: Miguel Gomes und Maureen Fazendeiro.

Newspapers in German

Newspapers from Austria